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Isle of You

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Von Dir trennt mich

eine Brise trennt mich vom

Meer trennt mich vom

Strand trennt mich

Ich werfe lustlos meine Dartpfeile auf die Weltkarte an meiner Wand, seit Tagen läuft der Ventilator, um mir die immer gleich heiße 30-Grad-Luft um die Ohren zu wirbeln. Er läuft nicht, weil er kühlt, er läuft wegen des monotonen Sounds des Motors. Ohne dieses Surren wäre es stiller, die Hitze noch lauter. Das wäre noch nerviger.

Ich habe zehn Pfeile. Jedes Mal aufs Neue bin ich angespannt, wenn ich den neunten geworfen und immer noch nicht getroffen habe, was ich treffen wollte. Wenn ich die Nummer Zehn verhaue, muss ich aufstehen und alle Pfeile einsammeln, wieder von vorne beginnen, weiter suchen ohne zu wissen, wo. Das ist jedes Mal sehr nervig. 

Ich kann von hier oben aus die Stadt sehen. Treppen, Wellbleche, Körbe voller Obst oder Nüsse, Datteln, Gemüse oder Fisch, Leute brüllen den ganzen Tag nach Kundschaft, Geld, schönen Augen, alle suchen etwas, aber mir ist es total egal, was sie suchen. Die Sonne knallt mehrere Stunden am Tag direkt bei mir rein. In dieser Zeit verstehe ich immer noch ein kleines bisschen weniger, wo ich suchen soll, mir fehlen Anhaltspunkte, mir fehlt die Kraft. Dieser Gesamtzustand ist wirklich unheimlich nervig.

Ich habe wieder alle zehn vergeigt. Ich werfe meinen Kopf in den Nacken über die Lehne meines Sessels und stöhne laut. Das gibt es doch nicht. Der zehnte Pfeil hat irgendeinen Ort in Russland getroffen, da bist du sicher nicht. Widerwillig stehe ich auf und sammele meine Pfeile ein. 

Ich habe einen Hund, er heißt Sam, ihm ist mindestens tausendmal so heiß wie mir. Sam liegt den ganzen Tag vor dem Ventilator, er steht nur auf für Wasser, Essen oder um aus dem Fenster zu bellen, wenn ihn alles mal wieder einfach nur nervt. Ich verstehe ihn so gut.

Ich beginne ein x-tes Mal von Neuem. Wo kannst du sein? Ich treffe irgendwas in Chile. Nope. Ich werfe nochmal und treffe Kyoto. Oder Tokyo. Als ob ich das jetzt wüsste… Sicher ist, du bist weder Tradition noch die Hektik der hektischsten Stadt der Welt, also zack, Volltreffer ins Nichts, ein weiteres Mal. Das ist so nervig. Sam gähnt. Ich lasse mich anstecken, aber gähne etwas mürrischer.

Ich werfe und lande voll im Wasser. Indischer Ozean. Bitte nicht auch das noch. Wie sollte das überhaupt gehen? So ein Unsinn. Da bist du doch auch nicht.

Die Haustür knarzt, weder Sam noch ich bewegen den Kopf, wir beide verstehen uns gut. Ein Blick aus dem Augenwinkel genügt. Wir beide atmen genervt aus.

„Um Himmels Willen, wie sehr kann ein Mensch stinken?! Ich meine, das Fenster ist offen, der Ventilator brummt den ganzen Tag und trotzdem stinkt es hier nur so vor Selbstmitleid. Schämst du dich denn gar nicht?“, schimpft Ella. Ella ist sowas wie meine beste Freundin, sie ist aber auch unheimlich nervig. Ich verteidige mich: „Hey, ich bin das nicht alleine. Sam ist wirklich faul die letzte Zeit. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist, er zieht einen richtig runter mit seiner Laune.“ Sam sieht mich an, als wüsste er genau, was ich gesagt habe. „Schau, das meine ich!“, sage ich zu Ella. „Hast du das gesehen?“

„Lass den armen Sam da raus“, meint Ella und streichelt diesen opportunistischen Faulpelz. „Du solltest wirklich dringend mal wieder vor die Tür gehen, ein paar Menschen sehen. Ich meine, bevor du und der Sessel miteinander verschmelzt. Na los!“ „Komm schon, Ella, ich bin einfach noch nicht so weit, okay?“, beschwere ich mich bei Ella und werfe meinen Pfeil nach Indien. „Indien, hm? Glaubst du, da ist sie jetzt? Das bezweifle ich ja eher. Und außerdem, wie willst du auf dieser Karte je etwas finden? Sie ist so zerfleddert von deinen Pfeilen, dass man kaum noch die Namen der Länder lesen kann“, bemerkt Ella. Ich antworte nicht. Aber sie hat recht, in Indien kannst du gar nicht sein, das geht nicht. Was wolltest du in Indien? Das geht nicht.

„Juan, so sehr ich es ursprünglich genossen habe, dich leiden zu sehen, mittlerweile ist es einfach nur noch traurig. Lass dich doch nicht so gehen, verdammt. Es ist jetzt über sechs Wochen her, seit Mia gegangen ist. Meinst du nicht, du solltest jetzt wieder leben? Ich meine, wenn sie irgendwo ist, sein sollte, keine Ahnung, wie du dir das vorstellst, dann kann ich dir einen ganz heißen Tipp geben: Hier in deiner muffigen Wohnung ist sie definitiv nicht.“ Sie ist so nervig. 

Ich werfe meinen Pfeil und treffe irgendetwas in der Karibik. Kuba oder so. Naja. Eine Niete, ganz klar. Vielleicht brauche ich wirklich eine Pause.

„Okay, na gut, du Nervensäge, ich komme mit. Aber damit das klar ist, Ella, ich sage es gerne nochmal in aller Deutlichkeit: Du nervst wirklich.“, sie lächelt mich an, als sie das hört und sagt: „Aber vorher ziehst du dir etwas Frisches an. So gehe ich nirgends mit dir hin.“

Wir sitzen auf der Terrasse einer Bar, Ella hat uns beiden Bier bestellt. „Und, wie schmeckt es dir? Ist doch gut, mal wieder etwas Leben um einen herum zu haben?“, fragt sie mich. Ich antworte: „Es schmeckt grässlich, Ella, es ist bitter und schmeckt nach Bier.“ „Genau wie das Leben! Salut!“ Sie nimmt einen großen Schluck und fügt hinzu: „Sag mal, die da hinten ist doch süß, was meinst du?“, Ella zeigt auf eine junge Frau mit schulterlangen dunklen Haare, leider eine Niete. Sie ist es nicht. Das war klar, und sie mag hübsch sein, ja wirklich, aber sie ist es ganz sicher nicht. „Nicht mein Fall, danke.“

„Juan, als deine Freundin, lass mich dich etwas fragen: Was um alles in der Welt erwartest du? Da draußen ist keine Mia mehr und weißt du was, du solltest froh sein, dass es so ist. Mia war keine Heilige. Du warst selbst nie so verliebt in sie wie jetzt, wo sie weg ist. Das ist doch bescheuert. Je mehr du von ihr erzählst, desto weiter weg gerät sie dir, Juan. Diese Mia gibt es gar nicht. Die letzten Wochen hast du dir etwas Gefährliches zurecht gesponnen. Du stellst sie auf ein Podest und mit jeder deiner unerträglich langweiligen Anekdoten darüber, wie toll sie war, entwächst sie dir weiter. Du machst sie zur Insel aber vergisst dabei, dass du ein Boot brauchst, um sie zu erreichen“, sie nimmt einen weiteren großen Schluck aus ihrer Flasche und fährt fort: „Du baust Luftschlösser aus Sand, Amigo und weißt du, was du noch getan hast? Sie abgeschirmt von dir mit Säcken voll von diesem Sand. Sack um Sack um Sack und du untermauerst und verfestigst mit jedem weiteren verschossenen Dartpfeil und jedem weiteren verlebten Tag auch noch den Wall, den du um sie errichtet hast. Es wird Zeit, Juan, ehrlich, ich meine es gut mit dir. Es wäre an der Zeit, sich mal wieder erreichbare Ziele zu setzen. Vielleicht landest du dann auch wieder einen Treffer.“ 

Sie nimmt noch einen Schluck. Ich schlucke einfach so. 

„Das habe ich echt schön gesagt, findest du nicht? Und jetzt noch einer: Lass das mal sacken. Denk an Tante Ella und ihre schlauen Worte. Ich frage in der Zwischenzeit mal den heißen Kerl da vorne, ob er Dartpfeile zuhause hat und wenn nicht, lasse ich mir von ihm ein Bier ausgeben. Adios, Schatzi!“ Sie steht auf und lässt mich kleinlaut sitzen. Ich sehe ihr kurz hinterher, sehe nochmal die Frau mit dem schulterlangen Haar… Nein, sie ist es sicher nicht.

Ich stütze meine Stirn auf dem Hals meiner Flasche ab und schließe die Augen. Die Leute um mich verschwinden und du erscheinst. Es ist ein Witz, den ich jedes Mal aufs Neue nicht verstehe. Auf der ganzen Welt finde ich dich nicht aber vor meinen geschlossenen Augen sehe ich dich glasklar, scharf, in höchster Auflösung. Dein Lächeln. Deine Lippen. Mit jeder Stunde der vergangenen Wochen werden sie schöner. Mit jeder Stunde die vergeht, werden sie schwungvoller und schöner, es macht mich noch verrückt, ich bin so kurz davor, sie an meinen Lippen zu spüren, wie ich es so oft getan habe und es tut mehr weh mit jeder Stunde und mit jedem Tag der vergeht. Es nervt so sehr.

Jeder Tag ohne dich wertet dich auf. Seitdem du weg bist werden die Menschen für mich immer schwerer zu ertragen. Mit jedem Tag deiner Abwesenheit werden alle anderen ein Stück weit langweiliger, liebloser, austauschbarer. Ich sehe nur noch Sinn in dir, in meinen geschlossenen Augen, im Pfeile werfen, im Nachdenken.

Die Musik ist sehr laut. Sie singen Lieder über die Liebe. Aber was sie beschreiben ist absolut nicht vergleichbar. Sie tun es auf die denkbar nervigste Art und Weise. Wenn das Liebe sein soll, dann müsste ich nicht Tag um Tag nach dir suchen, dann würde ich einen schrecklichen Song mit deinem Namen als Titel schreiben und ein dummes teures Auto fahren und zack, alles wäre in Ordnung. Doch dafür bin ich viel zu weit weg, abertausende Kilometer weit weg womöglich. Ich bin einsam, Du eine Insel. Loslassen ist schrecklich. Es tut kurz richtig weh, wie so oft die letzte Zeit.

Ella kommt auf mich zu und sagt ein bisschen zu laut: „Oh hör mal, was sie da spielen! Das ist die Hymne der Loser. Genau Dein Song.“ Sie tippt mir mit dem Finger auf die Stirn und lacht. Ich sehe sie grimmig an und sie verschwindet wieder zu ihrem Typen. Ich bin ihr unheimlich dankbar. Ich weiß zu schätzen, was sie für mich tut. Ich stehe auf und mache mich heimlich wieder auf den Weg nach Hause. Von unterwegs schreibe ich ihr, wie nervig sie ist und dass sie die Beste ist.

Zuhause angekommen begrüße ich Sam, der sich freundlicherweise die Mühe macht, aufzustehen. „Hey, mein Lieber. Danke, dass du für mich da bist. Ich mach dir etwas Leckeres zum Essen“, sage ich zu ihm und streichle seinen Kopf. Ich blicke mich in der viel zu heißen Wohnung um und mein Blick bleibt an der Karte an meiner Wand hängen. Fünf Pfeile stecken darin, fünf liegen neben meinem Sessel. Du bist nicht hier. Ich verstehe es ja. Ich bin ja nicht dumm. Du bist weder da noch dort noch hier, aber wie um alles in der Welt soll ich das akzeptieren? Es ist keine Option. Die Nicht-Möglichkeit einer Insel.

Ich stelle Sams Essen neben den Ventilator, der immer läuft und die heiße Luft im Raum verteilt. Irgendwie sind unsere Bemühungen gleichermaßen sinnlos, aber wir machen weiter und weiter damit. Ich schließe die Augen und lausche dem Schmatzen meines Hundes und dem dumpfen Lärm der Stadt und sehe kurz, wie wir letztes Jahr ein paar Straßen weiter im verdammten Regen getanzt haben und komme einfach nicht weiter. Ich lasse mich in meinen Sessel fallen.

Ein paar Minuten vergehen und ich werfe einen Pfeil. Ich treffe dich wieder nicht. Ich kann dich nicht treffen, weil du gar nicht auf der Karte bist. Ich weiß das, Mia. Was du bist, was ich aus dir gemacht habe, ist ganz wo anders. Du bist die Insel, die auf keiner Karte ist, an deren Strand ich niemals angespült werde. Ein kleines Stück neben der Karte bist du vielleicht. Du warst mal in Reichweite, doch ich habe dich völlig aus den Augen verloren. Ich erschaffe ein Panorama von dir, das dem Bild der Postkarte bei weitem nicht entspricht. In einem Jahr werde ich dich entweder, hoffentlich, endlich vergessen oder den Mariannengraben-tiefsten und unüberschaubar weitesten und stürmischsten Ozean zwischen uns erschaffen haben. So vieles, das mich nervt, aber nichts auf dieser Karte, das mich derart tief frustriert.

Ich liebe eine Idee, Mia. Eine Insel, die ich mir ausgedacht habe und nie mehr finden werde. Wie jemals soll ich das akzeptieren können? Ich lege die Hände über meinem Gesicht zusammen. Ich bin noch nicht so weit. Nicht weit genug weg von hier für dich, nicht weit genug weg von dir für hier.

Kurze Zeit später verhaue ich den zehnten Pfeil zum x-ten Mal und bleibe in meinem Sessel liegen. Das hier wird noch etwas dauern. Und der Ventilator wird noch etwas laufen. 

9m
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