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Living the lie

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Ich wünschte, es wäre anders, aber: Ich bin mit Dir nur glücklich, wenn ich sehr vergesslich bin. Wenn ich sehr unaufmerksam – fast schon tollpatschig dazu – das völlig Offensichtliche nicht sehe und ignoriere, auch wenn ich mich daran stoße.

Als wir zusammengekommen sind, puh, da sind viele Dinge einfach so geschehen, ganz unabsichtlich haben wir uns aneinander angepasst und wenn doch etwas aufgestoßen ist oder wurde, naja, wir waren eben auch noch jung und noch nicht ganz entwickelt. Um sich ein detailliertes Bild von Dir zu machen, hätte ich mehr Bilder als Vergleich gebraucht. So war die längste Zeit mein Bild von Dir etwas Unumstößliches. Indiskutabel. Eine Infallibilitas, wie mein Hund mich mit seinen Augen sieht. Im Grunde war das ja auch ein großartiger Zustand – sehr naiv war ich sehr glücklich. Ich bin mit Dir gewachsen all die Jahre bis hinein ins junge Erwachsene und Du hast mir viel geliefert, um die Halbwertszeit so lange wie möglich auszudehnen. Es waren die Früchte der anderen Bäume. Die waren schuld daran, dass ich Dich jetzt nur noch kurz ertrage oder ironisch oder benebelt oder eben vergesslich. Oder wenn ich mich wehre. Für mich selbst einstehe, aber das zu lernen war eben ein langer, schleichender Prozess, ein schwieriger war es, wirklich. Einer, der auch viel an mir kaputt gemacht hat, wenn man so will.

Die Bäume der Erkenntnis tragen bittere Früchte, ja. Aber sie sind letztlich der Grund, wieso ich jetzt nicht mehr mit Dir kann, so nicht mehr kann, wie es eben war zwischen uns, mit Dir, so wie Du warst und mir, wie ich es war. Die eine Seite der Gleichung kann sich nur ändern, wenn es auch die andere tut. Sonst sind wir eben ungleich, doch der Begriff deutet es nur an, wir sind viel mehr, viel weniger als das noch. Es ist jetzt, wie man es im Netz so gerne sagt: Can't unsee it. Ich kriege es nicht mehr weg. Ich kann auch nicht immer vergesslich sein. Diese Bedingung steht gar nicht erst zur Debatte. Und ich schwöre Dir bei allem, was mir lieb ist, mein Kopf hat Dir verziehen, wollte es auch immer schon, die Prozesse in mir, die ich steuern kann, die suchen den Frieden mit Dir. Aber mein Herz kann es nicht, es geht nicht.

Credit: Anna Duschl

Ich wünschte, es wäre anders, aber:

Wenn Du sagst, dass alles bald wieder normal sei, dann sprichst Du von einem Zustand, der schon nicht mehr zu retten war. Das Bild von uns ist lange her. Du sagst, das alles jetzt, das letzte Jahr irgendwie, da war der Wurm drin, ein gigantischer Wurm. Du hast Mist gebaut, wir haben irgendwie Mist gebaut, aber der löst sich gerade langsam auf und man kann das Ende schon absehen. Lange wird das alles nicht mehr dauern und wir könnten leben wie davor, aber nein, es tut mir leid, fuck this, unser Leben davor hat das alles erst ermöglicht und wird es unbeirrbar wieder und wieder tun.

Du und ich, so, das hat den point of no return lange hinter sich gelassen. Wir alle wollen zurück in diese Zeit, in der es alles gut war, es leicht war, wir frei waren, wir glücklich waren, aber die Wahrheit ist, dass dieser Punkt gar nicht in der Vergangenheit liegt, sondern in der Zukunft. Und so sehr es mir das Herz zerreißt und schmerzt, so sehr weiß ich heute, dass ich diesen Punkt schneller erreiche, wenn ich schneller Lebewohl sage zu Dir. Und zwar je klarer der Cut, und je schärfer das Schwert, desto schneller die Heilung und ob das in der Realität Sinn ergibt, dieses Sinnbild, I don't care. Es gibt Wichtigeres zu tun, wenn "das hier" vorbei ist. "Das hier" war wohl der bisher festeste Tritt in den Magen, aber er hätte auch viel heftiger ausfallen können, das dürfen wir nicht vergessen. Der Schmerz soll uns erinnern wie Narben an das, was wir nie wieder wollen voneinander. Toxizität brauchen wir nicht mehr. "Living the lie" brauchen wir nicht mehr. Und ich sage bewusst "wir", weil ich weiß, so sehr ich weg will von Dir, so wenig wird es ohne Dich gehen und ja, auch Dir soll es gut gehen. Wie gesagt, mein Kopf hat Dir lange verziehen. Die Gleichung muss lange, lange ungleich sein, damit wir uns entwickeln können, erst dann kann sie womöglich eines Tages wieder gleich sein, wer weiß. Es wird nur gehen, wenn wir genau dieses Ziel nicht verfolgen. Glück kann uns jetzt nur ein neues Normal geben und das wird mühsam, sicherlich, doch mühsam waren auch die vielen Kämpfe bis zu diesem Tag. Also dann doch lieber so. Und weil es ein neues Normal geben wird, auf Grund dieser Entscheidung völlig unausweichlich, heißt es dann endlich "living the life" und nicht mehr anders.

Und ich wünschte bis zum bitteren Ende, es wäre anders, aber: Ich muss hier und jetzt dringend mit Dir Schluss machen.

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Foto Credits:
Fotografie: Anna Duschl
Model: Padi Becker

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