Von der Kunst, über sich hinauszuwachsen
Und darüber, sich frei zu machen von den Erwartungen anderer
Für jeden, der sich selbst zu neuem Leben erweckt. Für diejenigen, die niemals begraben werden.
Ich war 8 Jahre alt, besuchte die dritte Klasse. Das Bild in meinem Kopf über jenes Ereignis ist so klar, als sei es gestern passiert:
Ich, das etwas zu groß und etwas zu breit gewachsene Kind mit den runden Pausbäckchen (die heute noch meine Familie dazu einladen, reinzukneifen), sitze in einem etwas zu engen, hellgelben T-Shirt in der ersten Reihe des Klassenzimmers. Auf meinem Kopf ein in Pastellfarben gestreifter Fischerhut, der die gesamte Pracht meines einst aschblonden Haars verdeckt. Mit einer Mischung aus Nervosität und Triumph warte ich auf den Hinweis der Klassenlehrerin, Kopfbedeckungen im Unterricht seien gegen die Regeln. Als ihr Blick nach der Begrüßung aller Kinder an mir hängen bleibt, kommt der Hinweis: „Annika, würdest du bitte deinen Hut absetzen?“ Mein Stichwort. Mein Einsatz. Das ist mein Moment. Ich fühle ihn noch heute unter meiner Haut.
Leicht zögerlich und dennoch entschlossen befreie ich meinen Kopf von diesem hässlichen Teil und enthülle sie – meine frisch knall-orange getönten Haare. Und ich höre es noch heute, das leise Raunender anderen, spüre noch heute die bohrenden Blicke in meinem Rücken.
16 Jahre später überkommt mich diese Erinnerung wie ein Hammer. Und ich stelle fest: Ich war nie gemacht für Konventionen. Schon das kleine Mädchen in mir wollte sich nicht allem beugen, was man von ihm erwartete – naja, zumindest innerhalb des begrenzten Horizonts, den man als 8-Jährige auf einem Dorf haben kann. Da saß ich also, in bis zu den Waden hochgeschnürten Chucks, einer zu engen Hose, einem zu knappen Shirt, das meine Röllchen am Bauch unübersehbar betonte und meiner neuen, eigenhändig kreierten Frisur, die eigentlich nur eins sagen sollte:
Fickt euch.
Für alle Hänseleien, jeden Spruch über mein Mondgesicht, meine Wampe oder mein riesiges Zahnfleischlächeln. Fickt euch für jedes Pausenbrot, das ihr mir aus der Hand geschlagen habt. Ihr könnt versuchen, mich kleinzumachen, aber in Wirklichkeit werdet ihr nur das Gegenteil bewirken.
Ich glaube, wir kommen als perfektes, vollkommenes und makelloses Bündel Leben zur Welt. Im Laufe unseres Lebens formen uns diverse Einflüsse wie Erziehung, gesellschaftliche Konventionen und Erwartungen, die andere – das System und die Gesellschaft – an uns stellen. Und langsam, aber stetig erleidet unsere Vollkommenheit Abschürfungen. Kleine oder große Teile von uns brechen ab, werden verbogen. Wir fühlen und sehen uns dann nicht mehr makellos.
Wir sind das Ergebnis der "Korrekturen" durch unser Lebensumfeld.
Unser ganzes Leben lang wird uns Mädchen gesagt, was wir zu tun und zu lassen haben:
Habe eine Meinung, aber äußere sie nicht zu laut, sonst könntest du arrogant wirken. Achte auf dich, aber sei auch nicht zu oberflächlich, das könnte eingebildet rüberkommen. Sei stark, aber sensibel. Suche dir einen Mann, an dessen Schulter du dich anlehnen kannst. Sei unabhängig, brauche niemals einen Mann. Mache Karriere. Werde eine gute Mutter und Hausfrau. Kind und Karriere? Töricht! Sei ein Biest im Bett, aber nur für deinen Partner. Ansonsten halte die Beine geschlossen. Lerne, ja zu sagen, doch sei bloß nicht zu naiv. Tu nur das, was als Frau schicklich ist.
Auch Männer sind diesem gesellschaftlichem Druck ausgesetzt:
Sei stark, hab alles im Griff! Biete eine starke Schulter, oder am besten zwei, bis es dich krümmt, aber hab‘ den Kopf immer oben! Sei Macho, aber kein Arschloch! Zeige nie, niemals Schwäche, oder willst du verweichlicht wirken? Sei der Versorger, der Antreiber, kümmere dich, fülle den Kühlschrank. Pflege dich, aber ja nicht zu eitel. Mach keine Liebe, ficke. Sei ein echter Mann.
Wo sind wir hingekommen mit diesen Standards? Wer hat sich die ausgedacht? Und wer konnte sie jemals alle erfüllen, ohne sein Selbst daran abzuschleifen, immer und immer mehr, bis kaum noch etwas übrig bleibt?
Wir leben heute in einer Generation des „sich selbst Findens“. In einer Generation, in der wir schon mit 18 eine Auszeit brauchen, um nach Bali zu reisen und herauszufinden, wer wir eigentlich sind und was wir mit unserem Leben anfangen wollen. Mit Anfang/Mitte 30 denken wir, das Leben sei vorbei, sofern wir die Checkliste der „Das gehört sich so“-s nicht abgehakt haben. Dann kommt die große Krise, die Midlife Crisis, das Burnout und die Rückkehr zur Frage, die wir uns vor über zehn Jahren schon mal gestellt haben: „Moment, wer war ich jetzt nochmal?“ The circle continues. Und während wir auf der Stelle treten, fragen wir uns immerwährend, was alle anderen denn davon halten (würden).
Ich sage: Schluss mit Krummmachen. Schluss mit Verbiegen bis wir brechen. Gesellschaftliche Standards sind nichts weiter als ein konstruiertes Regelwerk des Lebens, das nicht ohne Kollateralschaden funktionieren kann. Jeder hat ein kleines Kind mit orangegefärbten Haaren noch irgendwo in sich – in irgendeiner Form. Erinnern wir uns an dieses Kind, holen es zurück und klopfen ihm auf die Schulter für seine Tapferkeit.
Rahmen sind gemacht, um sie zu sprengen.
Eines sollten wir begreifen: Wir müssen uns nicht finden. Wir sind schon da. Und wenn wir anfangen, zu allererst nach innen zu hören anstatt nach außen, wird sich vieles zum ersten Mal seit vielleicht langer Zeit wieder richtig und wahrhaftig für uns anfühlen.