Der Schein des Funktionierens
Erkenntnisse einer Kranken, die nicht wie eine Kranke aussieht
Hallo du, schön, dich wiederzusehen. „Mich?“, fragst du dich, ja, dich meine ich. Du kennst mich schon, du siehst mich vermutlich jeden Tag. Aber keine falsche Scheu, ich offenbare mich gerne:
Ich bin die mit dem lauten Lachen, die Lustige, die dir die Shots an den Tisch gebracht, deinen Kumpel mit schlechten Witzen ein Lächeln entlockt, oder dich in deiner liebsten Bar beim Kickern aus den Augenwinkeln verschmitzt angegrinst hat.
Du musst meinen Namen nicht kennen, denn ich bin nichts weiter als ein Phantom. Das lächelnde Wesen mit den dunklen Augen. Du hast Angst vor mir, vielleicht begehrst du mich auch, aber lass mich wetten, dass ich dich schon einmal zum Lachen gebracht habe.
Ich vermute, von mir gibt es einige. Du denkst sicherlich, ich meine nun die Sorte Mensch, die andere in einem Raum in ihren Bann zieht, die Entertainerin. Aber ich stelle mich dir vor:
Ich bin die mit den Narben am Arm. Ich bin die, die den ersten Schritt macht, damit du ihn mir nicht vorwegnehmen kannst. Ich bin die, die du an der Bar zum Networken triffst, die dich fast dazu bringt, mir alles von dir preiszugeben, nur, um danach nach Hause zu gehen und meine Tränen zu trocknen.
Glaub mir, das klingt für mich noch abgedroschener als für dich – Klischee. Fast wie zwei Persönlichkeiten, die nichts miteinander zu tun haben sollten, die Entertainerin und das fragile Wrack. Es ist noch stupider, wenn ich mir überlege, dass sie beide in mir Zuflucht finden.
Ich bin, was man eine High-Functioning Borderlinerin nennt.
Du kannst sie zunächst nicht sehen, aber du spürst meine Furcht, wenn ich dich liebe. Keine Sorge nur, ich tue dir nichts und ich werde sicherstellen, beide Beine in die Hand zu nehmen, bevor es dazu kommen könnte. Denn mich zu lieben, ist auch für mich selbst unvorstellbar.
Borderline verbindest du sicherlich mit einem absoluten Psycho, ich tat es zumindest. Jemand, der sich nicht im Griff hat. Jemand, der mit dem Feuer spielt.
Und Flammenspiele sind mir das Liebste, aber ich sage es noch einmal: Keine Angst, du kannst die Flammen nicht sehen. Ich habe sie verbannt, ich trage die Wut, die wie Feuer aufkeimt, tief unter meiner Haut. Das Einzige, was du erhaschen kannst, sind meine Schnitte.
„Ritzen“, wie sie sagen. Als wäre ich noch Teenager, als wäre das eine coole, mutige Ausdrucksform. Ich nenne es eine Sucht, ein Entkommen und Bestrafen, wenn die Person, die doch eigentlich alles im Griff hat, ihre Kontrolle verliert. „Gib mir 10 Minuten“ sage ich, wenn es mich erwischt. Du denkst dir, dass ich eine kurze Auszeit brauche, ich suche das nächste Bad und das Weinglas, das sich am schnellsten zerstören lässt.
Ich bin nicht krank, die Welt hat mich krank gemacht. Ich habe früh gelernt, dass Tränen etwas für „Dramaqueens“ sind. Echte Männer weinen nicht und starke Frauen, die ernst genommen werden wollen, schon gar nicht. So zumindest mein Irrglaube.
Nun sitze ich hier, stelle mich dir vor. Es ist halb zwölf, die Klinik liegt schon tief im Schlaf, mein neuer Rückzugsort inmitten von Wäldern, in dem ich verstehen soll, dass ich nicht alles verstehen kann. Absurd, nicht wahr? Willkommen in meinem Kopf.
Lass es mich dir so beschreiben: Stell dir vor, du schwimmst in kalten Gewässern, du bist gut darin, denn dein Körper ist von der Kälte bereits abgestumpft und du kennst die genauen Bewegungen, die dich durch die eisigen Gewässer führen. Aber irgendwann spürst du einen schrecklichen Krampf im Bein, du schüttelst es aus und stößt dich an einem harten Felsen, aber der Krampf ist verschwunden. So treibst du weiter, verwundet, aber doch noch bei Kräften, bis der Krampf wieder auftritt und du dein Muster wiederholst. Inzwischen hat sich der Nebel eingeschlichen, du versuchst, die Sicht zu behalten und umschiffst jede noch so kleine Hürde mit Geschick und zarten Zügen, trotz Verwundung.
Mein Krampf sind meine Ängste, meine Emotionen, meine Wut, das Schneiden mein Fels. Und ihr, ihr alle, die ihr da draußen sitzt und euch an meinem Lachen, meinen Ratschlägen, meiner Stärke nährt, seid die Hürden, die ich zielgerecht umschiffe, die ich zu lesen versuche.
Stell dir vor, wie müde mich das macht. So müde, ich möchte schlafen und nicht mehr aufstehen. Müde und dennoch hellwach, verwirrt, denn ich kann nicht schlafen, wenn ich die kalten Gewässer bezwingen will. Der Schlaf, der Alkohol, die echte Nähe – sie bringen mich an den Rand meiner Kontrolle, dahin, wo ich meine Gefühle geparkt habe, damit sie mir das Funktionieren im Alltag ermöglichen.
Denn meine Gefühle sind nicht das, was ich mir darunter vorgestellt hatte, als ich die Welt gerade auf wackligen Beinen erkunden wollte. Ich dachte, es sei simpel: Bin ich traurig, weine ich. Bin ich glücklich, lächle ich. Einfach und vergänglich – nicht bei mir. Meine Gefühle sind wie ein Damm, der aus allen Nähten platzt, während ich die Gewässer umschiffe. Keine Chance, nicht zu ertrinken, kein Entkommen. Deshalb fahre ich daran vorbei, lasse dem Damm seinen Platz, ziehe und zerre nicht daran. Aber wie die Natur so spielt, das Wasser findet immer seinen Weg – die Gefühle ebenfalls.
High Functioning Borderline ist für mich nichts weiter als das – ich funktioniere, umschiffe die Gefühle, die Ängste, die Trigger, vertraue nicht darauf, dass mir jemand helfen möchte und funktioniere in deinen Augen nicht nur gut, sondern außergewöhnlich gut.
Deshalb bin ich nun hier, kurz vor Mitternacht, auf kalten Badezimmerfließen, um dir zu sagen, dass es a) nicht nur jenes Borderline gibt, das du in deinen Vorstellungen siehst und es b) nie zu spät ist, um dir Hilfe zu holen. Daher gibt es für diesen kleinen Beitrag kein offensichtliches, klischeebelastetes Ende. Ich habe nicht vor, dir ein Happy End zu bieten, denn ich bin noch auf der Suche nach meinem eigenen.