Die Zeit heilt keine Wunden
Wenn eine Nachricht alles ist, was bleibt
[Triggerwarnung: Der Text behandelt suizidale Inhalte.]
Immer wieder lese ich die Nachricht. Ohne zu begreifen, was ihr Inhalt bedeutet. Als wäre es gestern gewesen, sehe ich Mama in die Küche kommen. Noch im Laufen ihre Worte, die alles verändern: „Papa ist tot.“
Alles zugleich. Schmerz, Taubheit, Leere, Verzweiflung. Die Tage danach ziehen sich unendlich. Sie sind lang und zäh und verschwommen. Ich warte darauf, aus diesem Alptraum aufzuwachen. Ich warte darauf, dass jemand anruft und mir mitteilt, alles sei ein Irrtum gewesen. Ich warte darauf, dass jemand sagt, er habe mir nur einen Schreck einjagen wollen.
Und plötzlich war ich ganz allein
Sicherheit. Geborgenheit. Liebe. Wenn ich an Papa denke, denke ich daran, wie es war, von ihm in den Arm genommen zu werden. So fest umarmt zu werden, dass es keine andere Möglichkeit gab, als sich beschützt zu fühlen. Groß und stark und als könnte ihm nichts auf der Welt etwas anhaben, war Papa die letzte Person, um die ich mir Sorgen gemacht habe, von der ich Angst hatte, sie verlieren zu können. Was sollte einem Mann wie ihm schon passieren können? Einem Mann mit einer starken Meinung, furchtlos, dem sich nichts und niemand in den Weg stellen konnte. Mit einer naiven Dummheit verschwendete ich nicht einen Gedanken an Vergänglichkeit, nicht einen Gedanken daran, dass sich Dinge schneller verändern könnten, als es sich jemand vorstellen kann.
Doch dann diese Nacht. Sie kam aus dem Nichts und ließ mein Leben von einer Sekunde auf die andere in tausend Stücke zerbrechen. Stücke, die ich immer noch versuche, wieder zusammen zu setzen, ohne Erfolg.
Plötzlich gab es keine Möglichkeit mehr, von ihm in den Arm genommen zu werden. Plötzlich konnte ich nicht mehr seine Hand halten, mit ihm lachen oder Auto fahren und dabei laut Musik hören, Konzert-Pläne schmieden. Von einem auf den anderen Tag konnte ich ihn nicht mehr besuchen, ihn nicht mehr anrufen. Es gab keine Umarmungen mehr, keine Liebe, nur noch Leere. Ein großes Nichts, in dem nur Fragen und Vorwürfe mir selbst gegenüber Platz hatten.
Eine Nachricht, das war alles
Alles, was mir von ihm blieb. Ein paar Worte, an die ich mich klammerte, an denen ich mich immer noch festhalte. Ein letztes Mal von ihm Sonnenschein genannt werden, ein letztes ich LIEBE dich. Bevor das große Nichts kam. Ein Knall so laut, dass ich immer noch taub bin. Und dann diese unaushaltbare Stille. Ich wollte diesen Text hier schreiben, um Mut zu machen. Um zu zeigen, es geht weiter, alles hat einen Sinn. Doch beim Schreiben habe ich gemerkt: Ich kann das nicht. Ich stelle fest, dass ich immer noch vieles verberge, um mich nicht noch verletzlicher zu zeigen. Gespräche, in denen das Thema Eltern aufkommt, enden meist in peinlich berührten Gesichtern, in mitleidigen Blicken und unangenehmer Stille. Ein toter Vater ist ein Vibe-Killer für jede Unterhaltung. Ich habe gelernt, mein Lächeln aufzusetzen und mit einem „schon okay“ gekonnt das Thema zu wechseln. Ich dachte immer, ich würde das machen, um meinem Gegenüber kein schlechtes Gefühl zu geben. Doch wenn ich darüber nachdenke, mache ich es vor allem, um mir selbst nicht eingestehen zu müssen, dass ich genau das bin. Verletzt und verzweifelt.
Wenn ich erzähle, dass Papa sich das Leben genommen hat, fühlt es sich meistens an, als würde ich darüber sprechen, was jemand anderem passiert ist. Dass nicht ich das Mädchen bin, was zurückgelassen wurde. Dass es nicht mein Papa war, der sich umgebracht hat. Es ist, als würde ich ein fremdes Geschehen von außen betrachten. Es fühlt sich an, als wäre in meinem tiefsten Innern noch gar nicht angekommen, was geschehen ist. Wie eine große Schutzmauer in mir, die tiefe Emotionen nur zulässt, wenn die Welle an Schmerz so groß ist, dass sie hinüber schwappt. In regelmäßigen Abständen wird alles zu viel. Je mehr ich verdränge, desto schlimmer wird es, wenn es raus muss. Panikattacken, Alpträume – das und vieles mehr gehört zu diesen Phasen. Einerseits habe ich immer Angst, dass es bald wieder so weit ist. Andererseits sind diese Momente auch befreiend. Dann kann endlich raus, was sonst versteckt bleibt. Dann kann ich spüren, was da wirklich in mir ist. Denn tief in mir ist keine Kälte. Die Abgeklärtheit ist nur da, um mich zu schützen. Um zu funktionieren, um mein Leben nicht außer Kontrolle geraten zu lassen.
„Wie viel kann ich ihm bedeutet haben, wenn es ihn nicht abgehalten hat?“
Doch in Wahrheit fühle ich mich zurückgelassen. Es fühlt sich an, als wäre ich nicht genug gewesen. Wäre ich anders gewesen, besser, wäre er dann noch da? Wäre ich es dann wert gewesen, für mich zu bleiben? Doch ich war nicht Grund genug. Wie viel kann ich ihm bedeutet haben, wenn es ihn nicht abgehalten hat? Es passt nicht zusammen, dass ein Mensch sagt, dass er dich über alles liebt und dich trotzdem verlässt. Nichts passt zusammen.
Und wieso habe ich nichts bemerkt? Kannte ich ihn überhaupt, wenn ich nicht gesehen habe, was in ihm vorging? So oft bin ich im Kopf unsere letzten Gespräche durchgegangen, immer und immer wieder. Da waren keine Anzeichen für mich! Keine Anzeichen, dass er so verzweifelt war, dass es keinen anderen Ausweg mehr für ihn gab, er keine andere Option mehr sah. Und immer wieder die gleichen Fragen, die mich verfolgen. Wie hat er sich in seinen letzten Minuten gefühlt, was ging in seinem Kopf vor? Hat er die Nachricht vielleicht doch in der stillen Hoffnung geschrieben, dass ich sie lesen würde? Habe ich ihn enttäuscht, ihn im Stich gelassen? Meine größte Angst ist, dass er sich einsam gefühlt hat. Dass er verzweifelt war, seine Entscheidung noch nicht endgültig gefallen, dass er mir als letzten Hilferuf schrieb und ich nicht da war. Ich war nicht da. Im wichtigsten Moment habe ich versagt. Und dieses Gefühl werde ich nicht los. Es ist eine Last, von der ich weiß, dass sie niemals leichter werden wird.
Und wie trauert man richtig? Verlust ist so persönlich und trotzdem wird der individuelle Umgang damit so oft bewertet und verurteilt. Jemanden zu verlieren geht an die Substanz. Es löst die wohl stärksten Emotionen aus, die es zu fühlen gibt. Wenn mich Menschen fragen, wie ich damit umgehe und klarkomme, weiß ich nicht, was ich antworten soll. Wie soll ich Position beziehen, wenn ich meine Gefühle selbst nicht greifen kann? Es kommt mir vor wie ein ewiger Spagat zwischen den Erwartungshaltungen anderer, dem eigenen Hinterfragen und dem normalen Leben des Alltags.
Verlust, Trauer und Verzweiflung sind Worte, die ein Gefühl, einen Zustand beschreiben. Wir kennen ihre Definition und wissen, in welchem Kontext sie verwendet werden. Doch die Emotionen, die wir in uns tragen, lassen sich manchmal nicht in Worte fassen. Kein Wort, kein Satzgefüge der Welt ist groß genug, um ausdrücken zu können, wie es in mir aussieht. Aneinandergereihte Buchstaben werden dem nicht gerecht.
Ich konnte nichts tun, es ist einfach passiert. Und jetzt kann ich nichts mehr daran verändern. Es ist das, was am schwersten fällt, zu akzeptieren. Dass es endgültig ist. Und wie sehr ich mir auch wünsche, dass es anders wäre, es niemals wieder anders werden wird. So positiv ich normalerweise doch auch bin, so sehr ich in allem etwas Gutes sehe, so sehr ich hinter dem Verlauf meines Lebens stehe, weil er mich dahin gebracht hat, wo ich heute bin: Diesen Tag, diese Nacht würde ich sofort aus meinem Leben löschen, wenn ich könnte. Aber diese Macht habe ich nicht. Und genauso fühlt es sich auch an, machtlos.
Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden. Ich glaube, dass sie das kann. Aber nur, wenn die Zeit vergeht. Das tut sie nicht. Sie ist einfach an dem Punkt stehen geblieben, als er gegangen ist. Und ich warte immer noch. Auf ein Zeichen, eine Erklärung, darauf, dass es endlich aufhört, so verdammt weh zu tun. Wenn ich ehrlich bin, Papa, warte ich vor allem darauf, dass du endlich wiederkommst.