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Das Monster in mir

Wenn das einzig Stabile die Instabilität ist

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[Triggerwarnung: Der Text enthält suizidale Gedanken.]

Ich bin 25 Jahre alt und habe eine Emotional Instabile Persönlichkeitsstörung – besser bekannt als Borderline. Bestimmt ist diese Störung vielen ein Begriff. Das Stigma um sie herum von der Wahrheit zu unterscheiden, ist jedoch manchmal gar nicht so einfach. Das wurde mir bewusst, als ich letztes Jahr meine Diagnose bekam und mich seither viel mit der Krankheit auseinandersetzte. Ich selbst unterlag vielen Irrglauben. Natürlich halten die Menschen in meiner Umgebung sich mittlerweile zurück mit der Verbreitung von Stereotypen, die oft verletzend und fast immer falsch sind. Außer, sie wissen nichts davon.  Als ich meinen ersten Ratgeber über die Borderline-Störung in einem Buchladen bestellt habe, fing der Buchhändler umgehend an, von seinem „supernervigen Borderliner-Onkel“ zu erzählen, der ja immer so angespannt sei und so viel Aufmerksamkeit brauche. Er dachte wohl, ich recherchiere nicht aus Eigeninteresse. Man sieht den Menschen ihre Störungen und Krankheiten also scheinbar doch nicht an.

In diesem Artikel möchte ich euch einen kleinen Ausschnitt meiner persönlichen Lebensrealität zeigen. Subjektiv und vor allem auch als Momentaufnahme. Ich möchte von dem Monster in mir erzählen, für das ich selbst so lange blind war.

Mittlerweile ist der Umgang damit für mich alltäglich geworden, aber es gab diese Zeit vor dem offensichtlichen Ausbrechen des Monsters. Eine Zeit, in der ich alles mit mir selbst ausgemacht habe, es nur hinter verschlossener Tür herauskam und höchstens meine Partner:innen und Mitbewohner:innen einen kurzen Blick darauf werfen konnten. Ich fing nie eine Therapie an, erlaubte keiner Ärztin oder Therapeutin über vereinzelte Sprechstunden hinaus, tiefer zu blicken. Und auch mir nicht. Ich denke, ich war ganz gut darin, Dinge einfach zu verdrängen. Da mir von außen niemand spiegeln konnte, dass etwas nicht stimmte, fiel es mir leicht, das auch zu glauben.

Bis das dem Monster in mir nicht mehr gereicht hat, und die Panikattacken kamen. Diese waren auch das erste Anzeichen dafür, dass ich psychisch einiges aufarbeiten muss. Und eines, von dem viele Menschen in meinem Umfeld zum ersten Mal mitbekamen. Dennoch brauchte ich Jahre, um einzusehen, dass diese nicht einfach durch Stress kommen und dass da noch sehr viel mehr unter der Oberfläche schlummert. Irgendwann suchte ich mir endlich eine Therapeutin, die mir ziemlich schnell verdeutlichte, dass ich in eine Klinik müsse.

Der erste Aufenthalt in der Psychiatrie

Damit hat sich vieles geändert. Bereits nach wenigen Tagen brachen meine Schutzmauern, hinter denen ich mich bis dahin so semi-erfolgreich versteckt hatte, irreparabel zusammen. Hier konnte ich das Monster zeigen. Ich konnte richtig „krank sein“. Sämtliche Masken, die ich mir jahrelang anzog, um nach außen einen funktionierenden Eindruck zu schaffen, sind einfach abgefallen. Masken, die es mir ermöglicht hatten, normal zu wirken. Beziehungsprobleme hinter verschlossener Tür zu halten, Schwierigkeiten im Job mit Extraleistungen zu kompensieren und sogar einen Bachelor-Abschluss zu machen. Auch nach dem Aufenthalt wollten diese Masken nicht mehr passen. Es war unmöglich, so weiterzumachen wie bisher. Unmöglich, das Monster einfach so wieder zu bändigen oder gar die Augen davor zu verschließen. Alles was mich vorher stabilisiert hat, funktionierte nicht mehr. Wie in einer zweiten Pubertät musste ich Schritt für Schritt neu erlernen, wer ich eigentlich war. Heute komme ich mir immer noch oft vor wie eine Fremde, so als hätte ich vor 2 Jahren das Leben eines anderen Menschen gelebt.

Mein inneres Erleben ist wie eine Schale voller Wasser. Jede Belastung, jedes unerträgliche Gefühl ist ein Stein in dieser Schale, der den Wasserspiegel immer weiter ansteigen lässt. Das Überlaufen des Wassers symbolisiert das Monster in mir. Meistens zeigt es sich in Form von Suizidalität. Wenn es unbedingt raus will, fühle ich mich, als stünde ich in einem brennenden Haus. Alles um mich herum fängt an zu brennen, es ist unerträglich heiß. Panik, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit. Alles, was ich denke, ist, dass es aufhören muss. Dass ich nicht mehr kann. Dass ich hier raus will. Ich schreie und weine, kann niemanden erreichen und niemand mich. Das, was sich dann immer mehr ins Bild drängt, ist der Notausgang. Der Ausgang, der allem sofort ein Ende bereiten würde. Den Schmerz beendet, sofort und für immer. Es ist verlockend und es wäre leichter, diesen Weg zu gehen. Ich schwor mir damals, diese Tür für immer zuzumachen. Leider reicht es nicht, diese Entscheidung nur einmal zu treffen.

"Hier bin ich nicht die Kranke, hier muss ich mich nicht verstecken"

Noch bevor ich zum ersten Mal in Therapie war, bin ich in eine andere Stadt gezogen. Die Panikattacken haben mir schon da gezeigt, dass etwas nicht stimmt – und ich wollte flüchten, bin dem Traum eines Neuanfanges gefolgt. Auf gewisse Art hat sich dieser auch bewahrheitet, nur ganz anders als ich es mir vorgestellt hatte. Ich war schon lange nicht mehr in der Heimat. Viele meiner alten Freunde vermissen mich und fragen, wann ich sie endlich wieder besuche. Keine Ahnung, sage ich. Nicht, weil ich sie nicht sehen will. Sondern weil ich nicht weiß, wo ich in ein paar Monaten, ein paar Wochen, ein paar Tagen bin. Wann das Wasser das nächste Mal überlauft und der nächste Akutaufenthalt in der Psychiatrie ansteht. Wann ich überhaupt stabil genug bin, um für ein paar Tage weg zu fahren. Ich mache kaum noch Pläne, die länger als vier Wochen in der Zukunft liegen. An meinem jetzigen Wohnort habe ich fast nur andere Betroffene als Freund:innen. Ihnen muss ich nichts erklären. Sie verstehen, was es heißt, sich oft selbst nicht auszuhalten. Sie kennen Gefühle, die so groß scheinen, dass sie physisch weh tun. Und Gedanken, die so laut schreien, dass alles andere überhört wird. Andere Betroffene sind die einzigen Menschen, die mir mein Erleben wirklich validieren können. Hier bin ich nicht die Kranke, hier muss ich mich nicht verstecken. Und es tut gut zu wissen, mit meinen auf den ersten Blick paradoxen Denk- und Verhaltensweisen nicht allein zu sein.

Ich ziehe mich immer mehr aus alten Freundeskreisen zurück. Die Angst mich zu sehr verändert zu haben und nicht verstanden zu werden, ist zu groß. Ich schäme mich vor ihnen für mein altes Ich, genau wie für mein neues. Für meine Narben, meine Zusammenbrüche. Für die Klinikaufenthalte. Zu groß die Angst, dass sie einen anderen Menschen erwarten. Der, der alles weglacht und das Monster mit Drogenkonsum und Produktivität betäubt, sodass nichts davon nach außen dringt. Jemanden, den es schon lange nicht mehr gibt. Der Gedanke an meine frühere vermeintlich unerschöpfliche Produktivität bereitet mir heute Bauchschmerzen. Ich hatte große Pläne, schon immer. Abitur, danach ein naturwissenschaftliches Studium, wollte promovieren. Ich tat mein Bestes, mein fehlendes Identitätsgefühl mit dem Narrativ der klugen und fleißigen Studentin zu füllen. Heute ist davon nichts mehr übrig. Den Master breche ich ab und jeder Versuch, zumindest ein paar Stunden die Woche arbeiten zu gehen, scheitert kläglich. Meinen letzten Job hielt ich ganze zwei Wochen – bevor ich wieder zur stationären Krisenintervention in die Klinik kam und gekündigt wurde. Das alles macht viel mit mir.

Wer bist du denn in einer Leistungsgesellschaft ohne Lohnarbeit?

Diese Frage drängt sich mir natürlich auf. Aber meine Arbeit ist eben Therapie. Zu lernen, mit meinen öfter und schneller überschießenden Emotionen klarzukommen, funktionale Beziehungen zu führen. Das Reduzieren von Problemverhalten, einen Umgang zu finden mit dem immer wieder stark aufkommenden Selbsthass. Und vor allem: der Abschied von der Suizidalität. Das Paradoxe an der ganzen Sache ist: Selbst für Therapie bin ich zuweilen zu instabil. Zwei Versuche verschiedener stationärer Therapieverfahren wurden deshalb vorzeitig beendet. Ein sich anbahnender Zusammenbruch und Alkohol, den ich wie Öl ins Feuer gegossen hatte, ließen nichts übrig als blinde Zerstörungswut – das erneute Ausbrechen des Monsters, das in diesem Fall nur durch eine Fixierung und einer Verlegung auf die Geschlossene gebändigt werden konnte. Meine Therapeutin sagt zu mir, ich solle diese als „trial and error“ sehen – manchmal müsse es eben mehr als einen Versuch geben, aus dem wir gemeinsam lernen, bevor es weitergehen kann. Aber es fällt schwer, mich deshalb nicht fertig zu machen. Mich nicht als Versagerin zu sehen. Sie gibt mich nicht auf und sagt immer wieder, dass ich die Chance auf ein gutes Leben habe. Dass ich vom Überleben ins Leben kommen werde. Ich möchte ihr glauben.

Ein Teil von mir wagt es, diese Hoffnung zu haben, denn trotz allem habe ich Fortschritte gemacht. Am deutlichsten zeigt sich das in meinen Beziehungen. Früher waren sie alle ziemlich charakteristisch für die Borderline-Störung: eine wilde Achterbahnfahrt mit extremen Höhen und extremen Tiefen. Ich hatte den Hang, mir Partner und Freund:innen zu suchen, die nicht gut für mich waren. Ich suchte nach Menschen, die diese Achterbahnfahrt nicht nur mitmachen, sondern selbst mitfahren. Je enger die Beziehung, desto größer der Wunsch danach. Demnach waren die romantischen Beziehungen schon immer die größte Herausforderung für mich. Ging es meinem Partner gut, schwebte ich auf Wolke 7. Lief etwas in der Beziehung nicht ganz rund, ging meine Welt unter. Klingt übertrieben, ist es aber nicht. Die typische Angst vor dem Verlassenwerden, ein Symptom der Borderline-Störung, hatte mich fest im Griff. Jede kleine Auseinandersetzung steigerte sich ins Unermessliche. Eifersucht, Wutausbrüche, fliegende Gegenstände. Und danach die große Versöhnung, die Zusicherung, jetzt nicht verlassen zu werden, weil ich mal wieder überreagiert hatte. Ein absoluter Kick, der süchtig macht. Ich habe Drama mit Leidenschaft verwechselt, und Abhängigkeit mit Liebe.

Fortschritte, endlich Fortschritte

Seit ich verstanden habe, dass es meine Störung ist, die mich zu dieser Suche antreibt, ist es mir möglich, stabile Beziehungen zu führen. Ich kann meinem Partner heute von meinem Monster erzählen. Ihm sagen, wie er mit mir umgehen kann, wenn es ausbricht. In Worte fassen, was in mir vorgeht, wenn die innere Anspannung ins Unermessliche steigt. Dass es gar nichts mit ihm zu tun hat, wenn ich in Sekunden von einem euphorischen Tanz durch die Wohnung zu in mich gekehrt und traurig wechsle. Und heute kann ich auch unabhängig von meinem Partner eine schöne Zeit verbringen. Ich schaue nicht alle 5 Minuten aufs Handy. Wenn ich mal ein paar Stunden nichts von ihm höre, ist das kein Weltuntergang mehr. Das zeigt mir, wie viel ich bereits gelernt habe.

Ich bin froh über den Weg, den ich eingeschlagen habe. Es ist ein Prozess, den nicht nur ich durchmache, sondern meine Liebsten mit mir. Allen voran meine Familie. Die Entwicklung von der Tochter, die studiert, die funktioniert, von der man gerne erzählt zur psychisch Kranken, zur Instabilität in Person. Das anfängliche Unverständnis, was denn jetzt auf einmal los sei, warum ich denn nicht einfach wieder auf die Beine käme. Fragen, die ich selbst nicht beantworten und Ratschläge, die ich nicht gebrauchen kann. Mittlerweile ist die Angst vor meiner Instabilität der Gewöhnung daran gewichen. Wir lernen gemeinsam dazu und sie begleiten mich auf meinem Weg. Heute weiß meine Familie, was es bedeutet, wenn ich ungeplant stationär aufgenommen werde. Aber die Einstellung dazu ist eine andere geworden. Sie helfen mir, wo sie können, und akzeptieren, wo sie es nicht können.

Eines Tages werde ich sehen, dass das Monster zwar in mir ist – und es deshalb doch gar nicht größer als ich sein kann. Dass ich entscheiden kann, wieviel Macht ich ihm über mein Handeln, mein Selbstbild und meine Beziehungen geben möchte. An einem Tag wie heute, verstehe ich das. Heute habe ich es fest im Griff. Morgen kann das wieder ganz anders aussehen. Ich habe wahnsinnige Angst. Angst vor kommenden Hürden, Angst davor, niemals stabil genug für Therapie zu sein und mich für immer im Kreis zu drehen.

Ich habe Angst vor dieser Ungewissheit. Nicht zu wissen, wann das Wasser das nächste Mal überläuft, das Monster sich durchsetzt und die Kontrolle übernimmt. Angst, vor meinem eigenen Handeln. Angst vor mir. Aber ich glaube fest daran, dass irgendwann der Tag kommt, an dem ich den Notausgang nicht nur zumache, sondern ihn ein für alle Mal zumauere.

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