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Über Tomorrow Instagram

Ins Netz gegangen – der Bann der Sozialen Medien

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Sonntagmorgen, 07:08 Uhr: „Auch eine?“ fragt Noah* und wedelt mit einem kleinen Röhrchen gefüllt mit weißem Pulver vor meiner Nase herum. Ich schüttele den Kopf und starre auf seine geweiteten Pupillen, die mich wie ein schwarzes Loch zu verschlingen drohen. Mich fröstelt es, ich wickle mich in seine Decke ein, während ich versuche zu rekonstruieren, wie viele Lines er allein in den letzten drei Stunden gezogen hat. „Jetzt kann ich das hier auch noch leer machen“, findet er. Ich finde, das ist verschwendetes Geld. Mein Handy leuchtet auf und ich greife reflexartig danach, bevor ich überhaupt weiter darüber nachdenken kann. Aus dem kurzen Abchecken wird ein zwanzigminütiges Hin- und Herswitchen zwischen Apps. Instagram, Facebook, Twitter und wieder von vorn. „Hallo?“ – Noah holt mich aus meiner Trance zwischen einem toxic Tweet auf meiner Timeline und dem neuen Albumdrop meines Lieblingsrappers. „Hmmm?“ Ob ich auch eine Zigarette will.

Es ist kaum überraschend, dass viele – vor allem Angehörige der Generation Y und Z –  Social Media für negative Emotionen verantwortlich machen. Laut einer Langzeitstudie der American Psychological Association kann Social Media-Konsum Depressionen, Angstzustände und übermäßige Neidgefühle auslösen. Kann. Sind wir denn wirklich alle so verweichlicht, dass uns ein paar Zeilen Binärcode und zusammengewürfelte Pixel derart fertig machen können? In einem Zeitalter, in dem Soziale Medien in Lichtgeschwindigkeit neue Berufsfelder entstehen lassen, in dem unser Online-Auftritt wichtiger ist als der offline – da kann man sich für ein paar Likes schnell selbst aus den Augen verlieren. Ob wir es uns eingestehen wollen oder nicht – Bestätigung ist was Tolles. Findet auch unser Belohnungszentrum im Gehirn. Wenn auf Tinder „It’s a Match!“ aufploppt und wir bei Insta ein Like von einer coolen oder berühmten Person oder alternativ dem tagesaktuellen Crush bekommen, werden wir befriedigt. Je mehr Likes, desto stärker das Glücksgefühl. Natürlich will man mehr davon.

Bin ich eigentlich immer noch die Person hinter dem Bildschirm?

Oder schon längst die eigens kuratierte, smarte, witty Frau die einfach aus jedem Winkel gut aussieht? Die, die immer einen guten Tag hat und genug Geld, um sich täglich mit fünf überteuerten Latte Macchiato vollzukippen (nichtmal fairtrade), wo mir das doch die meisten Likes generiert? Diese Frage wird für viele schwer zu beantworten sein. Laut Psycholog:innen ist das aber gar nicht schlimm: Die Online-Persona, die wir selbst sorgfältig zusammenbauen wie ein neues Lego-Set, sporne uns nur an, die beste Version unserer Selbst zu werden.

Dass wir unsere Online Charaktere wechseln wie Unterwäsche (hoffentlich täglich!), haben wir alle bereits begriffen. Spätestens als Dolly Parton die #dollypartonchallenge Ende Januar 2020 ins Leben rief: Sie veröffentlichte vier verschiedene Bilder von sich – und entlarvt damit auch vier verschiedene Persona, in die wir nach Belieben schlüpfen können. Zugeknöpft im Lehrer:innen-Look auf LinkedIn, posierend im Norwegerpullover für Facebook, lässig Gitarre spielend auf Instagram und letztendlich im Bunny-Kostüm für – na was wohl? Genau, Tinder. Die Challenge reflektiert die allgemeine, seit Jahren anhaltende Kritik an Social Media auf humorvolle Art und Weise. So können wir alle gemeinsam drüber lachen, wie dämlich das doch eigentlich alles ist und vermeiden jede tiefergehende Auseinandersetzung mit unserer narzisstischen Ader.

Im November 2019 schaltete Instagram testweise für einige User den Like-Counter ab – das war’s dann wohl mit dem Flexen um Likes. Wie viele virtuelle Herzchen die beste Freundin für ihren „Schnappschuss“ auf den Malediven abgesahnt hat? Ist doch egal! Instagram war die Heldin der Stunde: „Wir wollen, dass Instagram ein Ort ist, an dem sich Menschen wohlfühlen“. Wenn da nicht ein Problem wäre: Die App ist auch einer der größten Daten-Konzerne der Welt. Und da Firmen gerne Geld verdienen –Überraschung! – wird hinter der Aktion sicherlich etwas mehr stecken, als es uns der Konzern wissen lässt. Vielleicht möchte Instagram uns aber auch alle nur in Kuscheldecken einwickeln und über den Kopf streicheln.

Wenn der Kampf um die neue Währung in Form von Likes nicht mehr so krass ist, dann teilen mehr Nutzer vielleicht auch Dinge, die eigentlich im „Passt nicht in die Feed Aesthetics“-Papierkorb gelandet wären. Vielleicht ist das auch die Lösung: Wir posten einfach eine lange Woche lang, wie wir lustig sind und vielleicht gefällt uns der Verzicht auf künstlich herbeigeführte Bestätigung so sehr, dass wir das einfach durchziehen. Dabei werden wir immer noch ein neues Online-Bild von uns zeichnen. Vielleicht sogar eines, das ein Stück mehr wir ist wie wir selbst. Mehr sharing bedeutet aber auch: mehr Informationen für Datenkraken wie Cambridge Analytica. Wie viel namenlose Konzerne bereits über uns wissen, ist schon seit dem ersten Facebook x Cambridge Analytica-Supergau klar. Dem Großteil von uns ist es trotzdem egal. Zu tief sind wir schon in die Online-Welt eingetaucht. Gläserner Staat? Hallo! Wir lassen uns weiterhin mit Likes und Retweets füttern, wie Hennen eingepfercht in einer Legebatterie. George, 1984 kann kommen.

Nach 15 Minuten bereitet Noah die nächste Line vor. In drei Stunden muss er auf eine Fortbildung. „Schlafen lohnt jetzt eh nicht mehr“, sagt er mit einem Zwinkern und legt seine Hand auf meinen nackten Oberschenkel. Ich nehme einen letzten Zug von der Zigarette und lege das Handy weg.

 *Name geändert

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Foto Credits:

Art Direction und Styling: Anna-Lena Halsig
Fotografie: Dennis Gritzke
Hair and Make-up: Daniela Pulina
Model: Leonie H/Model Management

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