K(r)ampfansage
Leben mit Gewitter im Kopf
Stell dir vor, du wachst auf und wirst gerade in einen Rettungswagen geschoben. Um dich herum siehst du verschwommen eine Meute stierender Menschen. Du hast höllische Kopfschmerzen, dir ist übel, du musst überlegen, wann dein Geburtsdatum ist, das Sprechen fällt so schwer. Aber das Schlimmste: Du hast keine Idee, wie du hier hingekommen bist. Das Letzte, woran du dich erinnern kannst, ist, dass du im Supermarkt vor dem Kühlregal standest und irgendwas gesucht hast. Dann: Willkommen in meiner Welt nach einem Grand-mal-Anfall.
Es war ein heißer, schwüler Tag im Sommer 2009, als ich das erst Mal im Supermarkt bewusstlos umkippte und mir hinterher gesagt wurde, ich hätte einen Krampfanfall gehabt. Damals wurde ich durch eine Armada von Untersuchungen gejagt, die meine Vorstellung von Übel bei weitem überschritten. Stichwort Lumbalpunktion. Die Ärzte überhäuften mich mit einer solchen Vielzahl von möglichen Diagnosen, dass mir schwindelig wurde. Im Nachhinein wurde eine tiefe Ohnmacht mit einhergehendem Krampfanfall diagnostiziert. Ich durfte ein halbes Jahr nicht Auto fahren und entwickelte panische Angst vor Supermärkten, Kaufhäusern, Fahrten mit dem ÖPNV und einigem mehr, die ich mit Hilfe einer Verhaltenstherapie wieder in den Griff bekam. Das war erst einmal alles. Und reichte für meinen Geschmack auch
Dann war jahrelang trügerische Ruhe. Trügerisch war die Ruhe deshalb, weil ich immer wieder komische "Schwindelanfälle" hatte. Regelmäßig bekam ich vormittags (immer dann) seltsame Sehstörungen und dachte, mein Kreislauf und mein von Kindheit an extrem niedriger Blutdruck seien der Auslöser dafür. Da ich in den Jahren eine restriktive Essstörung entwickelte, die mit einer rapiden Gewichtsabnahme einherging, hatte ich etwas, worauf ich diese Sehstörungen schieben konnte.
So stelle ich mir bis heute das Nichts aus Michael Endes Unendlicher Geschichte vor.
Dann kam der 12. Januar 2021. Wieder ein Supermarkt, wieder ein Kühlregal. Ich sah nichts mehr. Beziehungsweise war im Zentrum meines Sichtfeldes ein blinder Fleck. Es war, als wäre ich blind, wenn ich auf diesen Punkt schaute. So stelle ich mir bis heute das Nichts aus Michael Endes Unendlicher Geschichte vor. Ich dachte noch: Mist, scheiß Blutdruck. Dann nichts mehr. Schwärze. Wieder ein Rettungswagen. Wieder starrende Leute. Wieder eine Stimme, die sagte: "Sie hatten einen Krampfanfall." Ich hatte das Gefühl, eine Reise in die Vergangenheit zu machen.
Und genauso ging es weiter. Wieder unzählige Untersuchungen. Immerhin blieb mir dieses Mal die Lumbalpunktion erspart. Ein Fortschritt! Im Krankenhaus hatte ich einen sehr emphatischen Arzt. Nicht! Dieser haute mir die vorläufige Diagnose Epilepsie um die Ohren, ohne eine Idee davon zu haben, dass diese Information seine Patientin vielleicht beeindrucken oder aus der Bahn werfen könnte. Sein einziger Kommentar: „Sie müssen jetzt Ihr Leben lang Tabletten nehmen!“ Aha. Danke für diese ausführliche Information. Als mein essgestörtes Ich ihn fragte, ob ich von den Tabletten zunähme, war seine Antwort: „Ja, haha, Frauen machen sich immer Sorgen um ihre Figur.“ Das war zu viel. Ich beschloss, weitere Untersuchungen ambulant durchführen. Ein weiterer Aufenthalt in diesem Krankenhaus erschien mir unzuträglich und ich entließ mich selbst. Eine weise Entscheidung.
Am 8. April kippte ich dann erneut um, dieses Mal auf offener Straße mit meinem Mann am Telefon. Immerhin war ich im Rettungswagen so geistesgegenwärtig, darauf zu bestehen, mich nicht wieder in jenes Krankenhaus zu fahren. Jetzt ließ sich jedenfalls nicht mehr wegdiskutieren, dass da irgendwas nicht stimmte in meinem Denkapparat. Ich fand erstaunlich schnell eine gute Neurologin, die mir riet, mich zur Abklärung in eine Spezialklinik für Epilepsie zu begeben. Vier Tage lang war ich verkabelt. Nonstop war eine Kamera auf mein Bett gerichtet, damit ein potenzieller Anfall aufgenommen werden könnte. Immerhin, ich durfte ohne Kamera aufs Klo. Aber abschließen war verboten. Nachts noch mehr Kabel, Sauerstoffsättigung, Blutdruck, Herzfrequenz. Da war ein verordneter Schlafentzug zur Anfallsprovokation natürlich nicht schwierig umzusetzen. Mit Kabellage war quasi gar nicht mehr an Schlaf zu denken. Nie habe ich die Dusche so genossen wie an dem Freitag, an dem die Elektroden abgenommen wurden.
Diagnose Epilepsie. Ursache: unbekannt.
Unfassbar emphatische Ärzt:innen erklärten mir später die nun bestätigte Diagnose Epilepsie. Ursache: unbekannt. Es gäbe keine sichtbare anatomische Fehlbildung. Allerdings scheinen die Anfälle von einer Stelle über meinem linken Ohr auszugehen. Mir wurde sofort eine Ergotherapeutin zur Seite gestellt, die mich nach der Diagnose auffangen sollte. Hat sie auch. Ich bin ihr bis heute unfassbar dankbar. Dann folgte eine Sozialberatung hinsichtlich Schwerbehindertenausweis und dem Alltag mit der Krankheit an sich.
Nun also Epilepsie. Ich fragte mich nur kurz, was das jetzt bedeutete, da ich direkt im Anschluss für acht Wochen in eine Klinik für Essstörungen ging und somit eine perfekte Ausrede hatte, mich nicht weiter damit auseinanderzusetzen, außer einen Schwerbehindertenausweis zu beantragen. Als ich wieder zu Hause war, waren erstmal andere Dinge wichtig. Ich war arbeitslos, nach wie vor essgestört (Überraschung: man kommt nicht geheilt aus der Klinik), kämpfte gegen meine Depression, musste den Clash zwischen "Klinikblase" und "richtige Welt" verarbeiten. Viel zu tun also. Schließlich saß ich bei meiner ambulaten Therapeutin, die mir sinngemäß sagte, dass es jetzt echt mal, aber wirklich Zeit wäre, sich mit der Epilepsie zu beschäftigen. Das versuche ich bis heute. Mal mehr mal weniger erfolgreich. Wie setzt man sich mit etwas auseinander, das man im Regelfall kaum merkt? Seit dem besagten 8. April 2021 hatte ich keinen Grand-mal-Anfall mehr.
Seitdem darf ich nicht Auto fahren. Es hieß, nach einem Jahr, wenn meine Hirnströme ruhig sind und meine Tabletten gut eingestellt sind, wäre es wieder möglich. Ein Jahr ist inzwischen längst rum. Auto fahren darf ich nach wie vor nicht. Mein Wirkstoffspiegel im Blut ist immer noch zu niedrig und die Tablettendosis ist wieder erhöht worden. Wenn das nicht reicht, kommt ein weiteres Medikament dazu. Die Nebenwirkungen sind nicht immer angenehm. Bei jeder Erhöhung habe ich fiese Kopfschmerzen, meine Haut hat sich überlegt noch mal auf Teenager zu machen, nicht angenehm. Nach wie vor habe ich unterschwellig Sehstörungen, die inzwischen als Auren diagnostiziert wurden. Auch hier sollte mindestens drei Monate Ruhe sein bevor ich wieder Auto fahre. Aber wenigstens bin ich nicht noch mal umgefallen.
Ich werde vermutlich mein Leben lang Medikamente nehmen müssen.
Nach einigem Hin und Her wurde mir eine Schwerbehinderung mit dem Grad 50 zugesprochen. Dies ist ein Teil der Epilepsie, mit dem ich mich sehr schwer tue. Häufig habe ich das Gefühl, ich hätte mir diese Anerkennung erschlichen. Seit dem letzten Grand-mal habe ich eben nur noch unterschwellig diese Auren, sonst spüre ich nichts. Schwerbehindert? Ist das nicht ein Schlag ins Gesicht für diejenigen, die wirklich Einschränkungen haben? Inzwischen kann ich hier aber auch erkennen: Ich habe eine chronische Erkrankung, die mich immer begleiten wird (eigentlich zwei, aber die Essstörung lasse ich an dieser Stelle raus...). Ich werde vermutlich mein Leben lang Medikamente nehmen müssen. Ich darf nicht Auto fahren, niemand weiß, wie lange. Ich darf bestimmte Berufe nicht ausüben. Niemand kann vorhersagen, wann der nächste, große Anfall kommt.
Epilepsie mit all ihren Symptomen ist so unfassbar individuell. Es gibt Patient:innen, die haben keinerlei Vorwarnung in Form von Auren, sie fallen einfach aus dem Nichts um. Manche haben täglich Anfälle, manche sprechen auf die Medikamente nur wenig oder gar nicht an. Diese Liste ist schier endlos. Wie es für mich weitergeht, weiß ich nicht, niemand tut das, deswegen versuche ich, mich nicht damit verrückt zu machen.
Schränkt mich die Epilepsie im Alltag ein?
Ja und nein. So lange ich nicht umfalle, nein. Aber ich denke schon darüber nach, was vielleicht zu gefährlich ist. Klar, ich kann auch morgen vom Bus überfahren werden, aber irgendwie ist das doch was anderes. Bergsteigen ist meine große Liebe. Das würde ich alleine definitiv nicht machen. Seit der Diagnose hat mein Mann immer einen Tampen im Rucksack. „Wenn eine Aura kommt, binde ich dich an.“ Ich stelle mich nicht mehr so nah an die Straße, wenn ich an der Ampel stehe. Ich versuche einen geregelten Tagesablauf zu haben. Meine Schlafstörungen, die ich nach wie vor habe, machen mir oft Angst, kann doch Schlafentzug ein starker Auslöser sein. Ich versuche, Stress zu vermeiden. Nahezu unmöglich, wenn man zusätzlich mit zwei psychischen Erkrankungen geschlagen ist. Ich kämpfe schon häufig mit Ängsten. Der Angst, wieder in der Öffentlichkeit umzufallen, die Angst vor Peinlichkeit, Angst, wenn ich alleine bin, Angst vor zukünftigen Einschränkungen, Angst vor SUDEP (sudden unexpected death in epilepsy) und ja, auch Angst vor Stigmatisierung.
Ich will kein Mitleid!
Die Reaktionen meines Umfeldes waren okay. Privat und beruflich wissen alle Bescheid, falls doch mal etwas passieren sollte und damit sie nicht hilflos daneben stehen. Besonders mein Mann handelt alles toll und hat eine erfrischende Art – mit Humor, ohne es zu belächeln –, damit umzugehen. der es einfach hin nimmt und nach Lösungen sucht, mich immer wieder bestärkt und unterstützt. Einige haben gar nicht reagiert, manche haben mich mit einem Ausdruck von Mitleid angesehen, als würde ich morgen tot umfallen. Ich verstehe das auch. Aber das macht es mir nicht einfach. Ich will kein Mitleid! Zum einen ist die Gefahr in Selbstmitleid zu verfallen groß. Zum anderen habe ich immer und immer das Gefühl, ich verdiene dieses Mitleid oder auch Mitgefühl nicht – bei der Essstörung geht es mir ähnlich. Da ich immer „nur“ knapp am Untergewicht vorbei geschrammt bin, hatte und habe ich häufig das Gefühl, es reiche nicht. Ich verdiene den Platz in der Klinik nicht. Ich sei nicht krank genug. Da das Vorurteil noch immer überall präsent ist, eine Anorexie bedeute Untergewicht, werde ich immer wieder mit Ungläubigkeit konfrontiert.
Deshalb: Ich verheimliche die Essstörung nicht mehr. Im Gegenteil. Ich versuche aufzuklären, wo es nur geht, Ängste und Vorurteile abzubauen. Ich würde mir wünschen, dass viel, viel mehr über chronische Erkrankungen – besonders psychische – gesprochen wird. Und dass solche Erkrankungen keine „Heilsbringer“ anziehen. Im Sinne von (gut gemeinten, aber fehlplazierten) Aussagen wie: „Du musst das positiver sehen! Dir fehlt nur das richtige Mindset.“ Nope! Eine Epilepsie wird auch nicht mit Zuckerkügelchen „geheilt“.
Es gibt Menschen, die sehen in allem etwas Gutes. Krankheiten egal welcher Art werden als etwas betrachtet, an dem man wachsen kann. Ich kann meinen Erkrankungen wenig Gutes abgewinnen. Ich wünschte oft, ich hätte sie nicht. Wenngleich: Meine Erkrankungen haben mich immerhin dazu gebracht, dass ich überhaupt mal darüber nachgedacht habe, was (chronische) Erkrankungen oder andere Einschränkungen für betroffene Menschen bedeuten. Ich hinterfrage die Vorurteile, die Bilder die Menschen von anderen Menschen haben, die Stigmatisierung. Auch meine eigenen, denn auch ich kann mich nicht davon frei machen. Ableismus ist überall.
Vielleicht ist dies die für mich beste Auseinandersetzung mit der Epilepsie. Und für mich ist es ein Ansporn dagegen zu kämpfen, gegen Bilder von Epileptiker:innen, die alle einen Helm tragen oder Bilder von Essgestörten, die alle 15 und untergewichtig sind. Keine Frage, die gibt es, aber die Welt ist bunt und vielfältig. Und das ist sie im Hinblick auf so vieles. Krankheiten sind vielleicht nicht bunt, aber vielfältig und individuell und sie gehören nicht tabuisiert oder totgeschwiegen. Ich träume noch immer von einer Welt, in der Menschen aufhören, sich gegenseitig zu verurteilen, andere zu diskriminieren und zu stigmatisieren, egal, ob es um Krankheiten, Hautfarben, sexuelle Neigungen oder sonst was geht.
Deswegen: Mach den Mund auf! Reden ist Gold, zusehen und schweigen ist doof.