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Leben mit Lipödem: Zia (28) über eine Krankheit, die das Leben schwer macht

"Es gab Tage, da hätte ich mir am liebsten die Beine abgesägt."

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(Triggerwarnung: Der Artikel zeigt weiter unten ein Bild aus dem OP.)

Knapp 4 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter einem Lipödem, darunter fast nur Frauen. Die Dunkelziffer wird viel höher geschätzt. Bei der krankhaften Fettverteilungsstörung verspüren Betroffene Symptome wie extreme Schmerzen und unkontrollierte Gewichtszunahme in Armen und Beinen, wuchernde Fettpolster, Erschöpfung und Abgeschlagenheit. Ohne Aussicht auf Heilung. Obwohl die Krankheit weit verbreitet ist, wird sie doch nicht offen thematisiert und ist noch immer nicht vollständig erforscht. Aus diesem Grund unterhielt ich mich mit der Hamburgerin Zia, die sich nach langem Leidensweg jetzt zum zweiten Mal unters Messer gelegt hat, um ihre sprichwörtlichen Lasten loszuwerden.

Zia zählt seit einer Weile zu meinen guten Freundinnen. Ich kenne sie nicht anders als mit ihrer chronischen Krankheit, dem Lipödem. Das bedeutet, dass ich sie bis vor Kurzem eigentlich immer nur in langen Hosen, Kleidern oder Strumpfhosen kannte. Würde man mich fragen, wie ich ihre äußere Erscheinung beschreiben würde, auch mit Lipödem, dann würde ich antworten: zauberhaft, zierlich und kurvig zugleich, besonders. Dass sich in Zias Beinen die längste Zeit literweise kranke Fettzellen befanden, wusste ich, doch es tat ihrer Schönheit in meinen Augen zu keinem Zeitpunkt einen Abbruch. Das genaue Ausmaß ihrer Krankheit jedoch wurde mir erst klar, als sie mir nach ihrer ersten OP – einer sogenannten Liposuktion – ein Vorher-Nachher-Bild ihrer Unterschenkel auf dem OP-Tisch schickte.‍

TOMORROW: Wann hast du zum erstem Mal festgestellt, dass mit deinem Körper irgendetwas nicht stimmt?

Zia: Bereits sehr früh in meiner Jugend, so mit 13, nahm ich gefühlt von jetzt auf gleich radikal an Gewicht zu. Jedoch nur an den Beinen. Und das, obwohl sich nichts an meinem Ess- oder Sportverhalten geändert hatte. Ich dachte, ich sei einfach frühreif, es läge an der Pubertät. Irgendwann fingen Klassenkamerad:innen an, mich für meine dicken Beine zu mobben, auch meine Knie sahen anders aus als bei anderen. Es wurde immer schlimmer. Ich wusste, irgendetwas ist nicht normal.‍

Wie kam es schließlich zur Diagnose Lipödem?

Ich hatte das Glück, einen tollen Gynäkologen gehabt zu haben. Ein Jahr nach dem Beginn des Ganzen Mobbings berichtete ich ihm von den Sorgen, die ich bezüglich meiner Beine hatte. Er schickte mich direkt zum Phlebologen, also einem Venenarzt, der dann einige Tests mit mir durchgeführt hat – die Diagnose Lipödem kam dann relativ schnell. Gott sei Dank. Andere Betroffene sind 40 und wissen immer noch nicht, was los ist.‍

Was hat diese Diagnose psychisch mit dir gemacht?

Es war eine Mischung aus Erleichterung über die Klarheit und Schock. Leider rutschte ich – auch vorher schon durch die ganzen Hänseleien – in eine Essstörung, genau wie viele andere Patientinnen, da man denkt, man könne das entgegen der Fakten doch noch irgendwie beeinflussen. Irgendwann aß ich nur noch einen Apfel und einen Zwieback am Tag. Außerdem war ich völlig überfordert, ich hatte noch nie zuvor von dieser Krankheit gehört. Mit einem Rezept für eine Kompressionsstrumpfhose und dem Hinweis, ich müsse diese jetzt mein Leben lang tragen, war die "Aufklärung" von Seiten des Arztes dann auch gegessen. Ich war noch ein Teenager und ging mit tausenden Fragezeichen im Kopf.‍

Wie zeigten sich die Symptome der Krankheit bei dir?

Durch chronische Schmerzen vor allem in meinen Beinen, ausgelöst durch diese wuchernden, entzündlichen Fettzellen. Eine Mischung aus Druckgefühl und stechendem Schmerz. Generell waren meine Beine hyperempfindlich, selbst, wenn nur irgendwer spaßhalber dort reingekniffen hat. Über die Jahre wurde es trotz Kompressionsstrumpfhose schlimmer. Besonders im Sommer schwellte ich stark an, musste teilweise Hosen in zwei Nummern größer tragen. Naja, und dann waren da natürlich auch die äußeren Symptome. Meine Oberschenkel wurden so breit wie meine Taille.

"Wie sollte ich mich denn bitte lieben lernen, wenn ich mich selbst nicht als schön empfinden konnte?"

Womit hattest du eher zu kämpfen – den inneren oder den äußeren Symptomen?

Das Schlimmste für mich war, zu sehen, wie ich mich äußerlich verändere. Ich befand mich in einem ewigen Kampf, mich akzeptieren und lieben zu lernen, was mir die Krankheit und die Essstörung sehr schwer machten. Wie sollte ich mich denn bitte lieben lernen, wenn ich mich selbst nicht als schön empfinden konnte? Ich habe sehr schmale Schultern, eine dünne Taille, und dann hatte ich da diese unproportionalen Beine, die gar nicht zum Rest meines Körpers passten. Diese Hilflosigkeit, Ohnmacht und Verzweiflung haben mich zeitweise schier um den Verstand gebracht. Ich würde auch gerne durch gesunde Ernährung und Sport den Körper haben, den andere dadurch erreichen. Aber das Schicksal hatte mir die Hände gebunden.

Credit: Borys

Gab es Auswirkungen auf dein Sexualleben?

Anfangs ja, mein damaliger Freund war nicht besonders sensibel. Meine weiteren Partner jedoch hatten sehr viel Verständnis – ich ging damit, auch meinen Komplexen, von Anfang an offen um, noch bevor es überhaupt zu intimem Kontakt kam. So nach dem Motto: "Hey, wenn du das Geschenk auspackst, wird es nicht perfekt sein und ich will, dass du das weißt." Meine Partner gaben mir danach immer ein gutes Gefühl und ich konnte mich sexuell gut fallen lassen.

"Es gab Abende, an denen hätte ich am liebsten meine Beine abgesägt."

Wurdest du oft mit Vorurteilen und dummen Aussagen konfrontiert?

Ja. Es gab immer wieder kluge Ratschläge wie "Naja, dann musst du eben mehr Sport machen und gesünder essen" oder Fragen wie: "Hä? Wieso hast du denn so einen dünnen Oberkörper und so dicke Beine?", "Wieso sehen deine Knie so komisch aus?", "Kann es sein, dass deine Proportionen irgendwie nicht stimmen?" Das war schlimm auszuhalten, zusätzlich zu den körperlichen Schmerzen, die ich irgendwie aushalten musste. Es gab Abende, da hätte ich am liebsten meine Beine abgesägt.

Warum erfährt die Krankheit so wenig Aufmerksamkeit?

Die Krankheit betrifft fast ausschließlich Frauen. Ich möchte daher die ganz vorsichtige Vermutung anstellen, dass das Lipödem vielleicht publiker wäre, wenn auch mehr Männer davon betroffen wären. Es kommt hinzu, dass diese Krankheit ganz oft mit Fettleibigkeit verwechselt wird. Wer sich intensiv mit der Thematik auseinandersetzt, kann unterscheiden, ob eine Frau ein Lipödem hat oder fettleibig ist – es schockiert mich, dass viele Ärzt:innen diese Differenzierung nicht hinkriegen. Ich will nicht alle über einen Kamm scheren, aber viele lassen einen doch im Stich. Auch die Krankenkasse übernimmt die hohen Kosten für die Operationen nicht.

Du hast dich dennoch für die zwei notwendigen Operationen entschieden, um die kranken Fettzellen entfernen zu lassen, und hast Jahre lang dafür gespart.

Fünf Jahre, um genau zu sein. Ich sah bei stern TV zufällig einen Beitrag über einen Lipödem-Spezialisten, von da an war mir klar, dass ich unbedingt zu ihm möchte. Für die Beine kamen Kosten in Höhe von 12.000€ auf mich zu, meine Arme, die auch betroffen sind, aber eben weniger, werden später auch nochmal um die 7.000€ kosten. Trotz mehrmaliger Anträge bei meiner Krankenkasse musste ich alles aus eigener Tasche bezahlen, mit der Begründung, das sei keine "lebensnotwendige Operation". Dass hier seelische und körperliche Schäden entstehen, wird ignoriert, auch, dass man irgendwann seinen Job nicht mehr ausführen könnte, wenn man dort viel auf den Beinen sein muss.

Wie viele Liter Fettzellen wurden deinen Beinen entnommen?

In beiden Operationen insgesamt 12 Liter. 12 Liter! Da soll mir nochmal jemand sagen, ich solle einfach mehr Sport machen. Die Heilungsphasen danach verlangen einem auch nochmal ganz schön viel ab. Einerseits körperlich, andererseits auch seelisch – schließlich muss man sich erstmal daran gewöhnen, dass man im Spiegel jetzt etwas ganz anderes sieht.

Links der unbehandelte, rechts der behandelte Unterschenkel von Zia während der Liposuktion‍

Zia, was rätst du anderen Betroffenen, die den Weg in ein unbeschwerteres Leben noch vor sich haben?

Nicht aufgeben. Ich weiß, es ist eine Zerreißprobe. Und ganz viel mit der Community sprechen, denn die ist super und unglaublich stark. Schreibt euch gegenseitig an, berichtet von euren Erfahrungen, holt euch hilfreiche Ratschläge und lasst euch Mut zusprechen. Scheut euch auch nicht davor, euch psychische Unterstützung zu holen. Wechselt den Arzt/die Ärztin 30 Mal, wenn es sein muss, seid hartnäckig! Und wenn es geht, versucht, es nicht totzuschweigen und stattdessen einen offenen Umgang damit zu pflegen – auch ich haderte lange damit und bin im Endeffekt sehr dankbar, dass ich mich geöffnet habe. Die Resonanz war unfassbar und der Austausch, der dadurch zustande kam, sehr wertvoll. Es ist so schön, Menschen zu finden, die einen wirklich, wirklich verstehen.

10m
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