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Das Experiment "Antidepressiva"

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Tag -187: „Willst du nicht mal aufstehen und dir was anziehen? Es ist gleich Mittag.“ Er schaut mich so an wie jeden Tag. Neutral. Nicht lachend, nicht genervt, nicht wütend, nicht traurig. So ganz ohne Widerstand. „Mir ist heute nicht danach, ich fühl mich wohl auf dem Sofa.“ Mittlerweile besitze ich 4 Jogginghosen, die ich im Drei-Tages-Takt rotiere. Das ist mein absolutes Highlight. „Das sagst du jeden Tag“, gibt er von sich, während er aus dem Zimmer läuft. „Ich weiß“, antworte ich viel zu leise.

„Wieso sind Sie hier?“, fragt mein Hausarzt mich, als ich an einem Mittwochmorgen um 7:30 Uhr bei ihm sitze und ihm meine Augenringe präsentiere. „Ich kann es Ihnen nicht genau sagen. Ich denke, es ist an der Zeit, etwas zu ändern.“ Wow. Kamen diese Worte gerade wirklich aus meinem Mund? Er schaut mich etwas verdutzt an und antwortet: „Dann fangen wir vielleicht damit an, was Sie denken, was ich für Sie tun kann?“ Ich mag ihn. Nicht lang um den heißen Brei herumreden. Direkt zur Sache kommen. „Ich denke, ich bin depressiv“, nuschle ich ihm auf den Tisch.

Etwas in mir fühlt sich unwohl und will am liebsten direkt ins Auto steigen. „Ich werde Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen, die Sie bitte ehrlich beantworten müssen, anschließend werden wir gemeinsam nach einer passenden Lösung für Sie suchen.“ Er klickt ein paar Mal auf seinem Bildschirm herum und beginnt circa 20 Fragen zu stellen. Angefangen mit meinem emotionalen Zustand, Fragen über meine Gefühlslage in bestimmten Situationen und ob ich schon einmal an Selbstmord gedacht hätte.

„Naja, wenn ich über eine Brücke laufe, stelle ich mir schon manchmal vor, wie es wäre, auf dem Boden aufzuklatschen. Wenn ich lange Auto fahre, vergesse ich manchmal, dass ich am Steuer sitze und stelle mir vor, einfach gegen die nächste Leitplanke zu düsen, weil sich alles wie ein Traum anfühlt und ich ja gleich wieder aufwache und mir schwitzend die Decke vom Körper schmeiße. Tut das nicht jeder ab und an? Also nein. Nicht wirklich. Nicht ernst gemeint.“

Er stellt mir ein paar weitere Fragen zu meinem Befinden und meint abschließend, dass ich alle Anzeichen für eine schwere Depression aufweise. Ich war vor einem Jahr bereits wegen solch eines Gespräches hier, wollte es aber damals ohne „Hilfsmittel“ versuchen. Dieses Mal muss ich mir jedoch selbst eingestehen, dass es so nicht weiter gehen kann und ich meine Gesundheit selbst in die Hand nehmen muss. Nach den Worten aus seinem Mund, der Bestätigung, dass ich mich nicht ohne Grund seit einer Weile so fühle, bin ich schockiert und erleichtert zugleich.

Nach etwa 20 Minuten Gespräch überreicht er mir eine Überweisung zu Psychotherapie und ein Rezept für ein Antidepressivum, das wohl in meiner Altersklasse am gängigsten sei und die besten Erfolgsquoten aufzeige. Jeden Tag um dieselbe Uhrzeit eine Tablette, nach zwei Wochen soll ich die ersten Veränderungen spüren, dann erst würde es merklich besser werden, im Zweifel auch noch einmal kurz schlechter. Stabilisierung nach vier bis sechs Wochen. Ich gebe ihm die Hand und bedanke mich. Ich laufe zu meinem Auto und steige ein. „Ich brauch 'ne Kippe.“ Es ist 8:00 Uhr.

Tag 1: Besser könnte meine Laune nicht sein! So viel Energie hatte ich seit Monaten nicht. Positiv gestimmt und voller Erwartungen starte ich dieses Experiment meiner persönlichen mentalen Optimierung. „Hast du Lust auf einen Kuchen?“, grinse ich meinen Freund an. „Was ist los mit dir?“, lacht er mir entgegen. Jetzt lachst du noch, Freundchen, das ist mein neues geiles Ich. Ich werde jetzt gesund.

Tag 2: Meine Krankenkasse hat eine erstaunlich gut gestaltete Website, weswegen ich nicht lange suchen musste, um zu der Liste der Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen mit kassenärztlicher Abrechnung in meiner Stadt zu gelangen. Puh. Ungefähr 30 gut ausgebildete Menschen mit der Lizenz, mir zu helfen. Und los. Nach einer Weile Herumtelefonieren und E-Mails Schreiben erreiche ich nur den Anrufbeantworter oder bekomme sofort eine Absage mit der Begründung, es gäbe keine Plätze und die Warteliste betrage sechs Monate, jedoch sei auch diese bereits voll. „Sie können es ja in einem halben Jahr nochmal versuchen, viel Erfolg und alles Gute für Sie!“ Und tschüss. Mir war bewusst, dass ich nicht sofort einen Therapie-Platz bekommen würde, nur dachte ich, wenigstens einen Schritt weiterzukommen – zum Beispiel in Form eines Rückrufs. Nichts da. Nicht schlimm, morgen rufe ich einfach nochmal an, auch wenn ich die Therapie dann privat zahlen muss. Ich bin offen für alles, was mich weiterbringt.

Tag 5: Das Vibrieren meines Handys weckt mich und ich greife hektisch danach. „Hallo?“ „Hallo, Sie hatten mir vor ein paar Tagen auf den AB gesprochen, hätten Sie morgen um 17:00 Zeit? Bei mir gab es einen Terminausfall.“

Tag 6: „Wieso sind Sie hier?“ Da ist er wieder, dieser Satz. „Ich werde ganz ehrlich zu Ihnen sein und es Ihnen so beschreiben, wie es sich für mich anfühlt. Ich fühle mich beschissen. Schon eine ganze Weile. Ich kann die Person, die ich bin, nicht ausstehen."

Tag 90: Seit drei Monaten gehe ich wöchentlich für 50 Minuten zur Therapie. Seit drei Monaten nehme ich jeden Tag eine Tablette zu mir, die mir hilft, den Tag zu meistern und mich nicht an meinen Gedanken und Gefühlen aufzuhängen. Ich durchlaufe den Prozess des Experiments und mir ist nun klar, dass mich dieser auch noch eine ganze Weile begleiten wird. Und ich bin endlich bereit dafür. Wie sich zwischenzeitlich herausstellte, habe ich eine zunehmende kurative Depression. Das ist die Art von Depression, die durch ein oder mehrere (verdrängte) Traumata ausgelöst werden. Durch jahrelange Verdrängung und wiederkehrende traumatische Erfahrungen hatte sich diese Depression mit den Jahren ganz schön tief eingenistet.

Ich kann eine Therapie nur sehnlichst weiterempfehlen. Es gab viel zu viele Tage, an denen der bloße Gang ins Bad schier unmöglich schien. Ein Telefonat mit meiner Mutter, eine kleine Kritik von einer Freundin, in die Uni gehen, arbeiten, in einer Beziehung sein, eine eigene Wohnung haben, eine Wohnung teilen, zu existieren – alles zu viel. Von Gefühlen mit den tiefsten Tiefs zu Gefühlen mit den höchsten Hochs im Minutentakt. Das sind Beispiele meiner persönlichen Erfahrung. Jede Depression ist individuell, so wie jeder von uns ein Individuum für sich ist. Keine meiner Aussagen ist despektierlich gemeint oder soll die Verharmlosung der Krankheit suggerieren. Das ist lediglich mein ganz persönliches Experiment, das mich auf eine spannende Reise mit meinen Gedanken, Gefühlen und meinem Körper mitnimmt.

Depressionen sind ein ernstzunehmendes Thema, über welches viel offener und direkter gesprochen werden sollte. Wenn ihr jemanden kennt oder selbst etwas in der Art erlebt, redet mit jemandem darüber und scheut euch nicht davor, euch Hilfe zu besorgen. Das ist stark, das ist verdammt mutig und gut für euch.

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