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Warum „Du bist so reif für dein Alter“ häufig kein Kompliment ist

... und was aus psychologischer Sicht eigentlich dahintersteckt

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Würde ich jedes Mal einen Euro für meinen schwermütigen Seufzer bekommen, sobald jemand als „sehr erwachsen für sein Alter“ bezeichnet wird, wäre ich relativ wohlhabend. Relativ wohlhabend und anhaltend betroffen. Denn daran gemessen, warum eine Person oft älter wirkt, als ihr Ausweisdokument bestätigen lässt, sollte eigentlich eher latente Besorgnis anstatt beeindrucktes Schulterklopfen folgen.

Disclaimer: Ich möchte niemanden aus Angst vor psychologischer Inkorrektheit entmutigen, Mitmenschen Anerkennung entgegenzubringen. Betrachtet es mehr als exklusiven Besucherausweis für die Backstage-Area des Theaters, das das Leben so spielt.

Stirnrunzeln. „Ist es nicht löblich, wenn eine Person Gleichaltrigen voraus ist? Es ist doch immer gut, weiter als andere zu sein.“ Zunächst: Nein. Des Weiteren: Geistige Entwicklung ist (noch) kein olympischer Sport.

Ich erläutere: Was genau bedeutet denn „Erwachsen-Sein“? (Falls es bedeutet, ohne extensive Atemübungen als Vorbereitung beim Arzt anrufen zu können, um Termine auszumachen, bin ich definitiv schon mal raus.) Reif wirken auf uns meist Personen mit kontrolliert-angepasster Gestik und Mimik, einem ausdrucksstarken Wortschatz sowie der Fähigkeit, jegliche Alltagssituation scheinbar souverän im Alleingang zu meistern. Diese Fähigkeiten entwickeln sich zum Großteil auf Basis bereits gemachter Erfahrungen im Verlauf des bisherigen Lebens. Also mit der Zeit.

Stellen wir uns nun im Umkehrschluss die Frage, warum sich eine Person solche Fähigkeiten schneller aneignen kann als andere ihres Alters, ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder sie ist ein Naturtalent oder es wurden einige Jahre der organischen Entwicklung übersprungen.

Option Nummer 1 schamlos außer Acht gelassen, konzentrieren wir uns auf die zweite Möglichkeit. Festzuhalten gilt: Das Überspringen von Entwicklungsphasen richtet unser Gehirn nicht aus perfider Neugier ein, sondern basiert wie das meiste auf dem Actio-Reactio-Prinzip. Es gibt einen Auslöser, ein Ereignis als Kickstart. Meist ist dieses ominöse „Ereignis“ (wie so oft) bereits in jungen Jahren anzutreffen. Leider sind es hierbei oft unschöne Szenarien, die ein Kind dazu zwingen, das „Kindsein“ vorschnell aufzugeben, um direkt in das Erwachsenenleben einzutauchen.

Das Durchleben belastender Situationen wie:

  • schwere Krankheit der Eltern

  • emotionaler und/oder physischer Missbrauch

  • Vernachlässigung

  • ein zerstrittenes Elternhaus

  • Mobbing in der Schule, etc.

können als Katalysator dafür dienen, dass Kinder in einen "Überlebensmodus" schalten und nun Aufgaben stemmen, welche eigentlich die eigene Altersfreigabe weit überschreiten. Sei es um den andauernden Streit zwischen Verwandten zu schlichten oder beispielsweise den Haushalt zu schmeißen, da die Obhutspersonen dazu nicht (mehr) in der Lage sind. Die vermeintliche „Reife“ entpuppt sich daher schnell als ein adaptives Verhaltensmuster, die Fähigkeit sich sozialen Situationen anzupassen, um das eigene Überleben zu sichern.

Einmal das tatsächliche Erwachsenenalter erreicht, hört man dann nicht selten, dass man „sehr reif für sein Alter ist“ oder eine „alte Seele“ in sich trägt. Dies spiegelt sich auch oft im Alltag wider:

  • Gleichaltrige fragen oft um Rat

  • man versteht sich mit älteren Personen besser als mit Gleichaltrigen

  • nicht selten sind Partner einige Jahre älter als man selbst

  • auf viele wirkt man einschüchternd oder gar autoritär

Zusätzlich problematisch zeigt sich hierbei, dass durch die beschleunigte Entwicklung in einigen Lebensbereichen eine kräftezehrende Dysbalance entsteht. So sind betroffene Personen beispielsweise durchaus fähig, früh problemlos einen eigenen Haushalt zu führen, aber möglicherweise mit kleineren Aufgaben zunehmend überfordert, da diese Fähigkeiten der natürlichen Entwicklungsstufe noch voraus liegen.
Natürlich muss man auch hier anmerken, dass jede Person einzigartig ist. Nicht jedem reifen, eloquenten Gen-Z muss ein Trauma vorangegangen sein. Das Wesen von Menschen wird nie in ein paar Zeilen allumfassend und unfehlbar erörtert werden.

Trotzdem darf man festhalten: Ein Kind, welches sich nicht als solches verhält, has probably seen some shit. Eine Person, die älter wirkt als Gleichaltrige, war wahrscheinlich ein solches Kind.

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