mobile menu
IG
close mobile menu
Über Tomorrow Instagram

Das Leben mit Down-Syndrom – eine Verwebung aus Glück, Liebe und Überforderung

Eine Abweichung im Erbmaterial, die mehr Präsenz in den Medien benötigt

A-
A
A+

Wenn man an die Chromosomenstörung Trisomie 21 denkt, kommen einem oft Plakate, Zeitschriften-Cover oder Filme in den Sinn, auf denen Menschen mit einem strahlenden Gesicht abgelichtet sind. Googelt man das Down-Syndrom, wird man überhäuft mit Bildern von Menschen, die absolute Lebensfreude verkörpern. Was folgt ist ein kurzer Moment der Freude, in dem man versucht, etwas von diesem Glück für sich selbst zu speichern. Und dann ist der Film zu Ende, die Zeitschrift doch wieder im Regal gelandet, der Laptop geschlossen – und man behält diese euphemistische Darstellung irgendwo in seinem Gedächtnis.

Vor wenigen Wochen bin ich aus meinem Auslandsjahr in Norwegen zurückgekehrt, wo ich als Au Pair bei einer alleinerziehenden Mutter von vier Töchtern gelebt und gearbeitet habe. Bei der zweitjüngsten (zu der Zeit 8 Jahre alt), ist Down-Syndrom und ADHS diagnostiziert worden. Vor allem zu Beginn hatte ich großen Respekt vor der Verantwortung, noch dazu ohne ein Wort Norwegisch zu sprechen. Doch ich erkannte schnell die Liebe und Einfühlsamkeit, die dieses kleine Mädchen ihren Mitmenschen schenkte. Am Esstisch achtete sie immer darauf, ob jemand noch etwas brauchte und die Frage, ob sie helfen könne, lag ihr immer auf den Lippen. Wenn ich Heimweh hatte, mir alles zu viel wurde, spürte sie es sofort, sah mich an und sagte: “Du musst nicht traurig sein”. Dann nahm sie mich in den Arm, streichelte meinen Kopf. “Damit es schnell nicht mehr so weh tut”, sagte sie dann.

Das ist die eine Seite der Realität. Die schöne. Was man dabei jedoch vergisst: Das Bild von schier grenzenloser Liebe und Lebensfreude macht nur einen Teil der Realität aus. Denn zu dieser Realität zählt auch: Überforderung. Und diese brachte mich oft an die Grenzen meiner Belastbarkeit.

Denn nicht selten war sie der Grund für meine Tränen. Zum Beispiel dann, wenn es ihr nicht gelang, ihre Emotionen in Worte zu packen und diese dann in anderer Form an mir ausgelassen hat. Sätze wie “du bist dumm”, der provokative Blick mit einem ausgestreckten Mittelfinger, hier ein Tritt, dort ein Schlag ins Gesicht, auch das war Teil meines Alltags mit ihr. Es war ein Zusammenspiel geballter Gefühlskraft. Ein Wechselbad der Emotionen aus Wut, Glück, Traurigkeit, Unzufriedenheit, Liebe.

Was passiert, wenn sie niemals lernen wird zu laufen? Wie wird sie von ihren Mitmenschen aufgenommen? Wird sie jemals für sich allein sorgen können? Wird sie lernen zu sprechen? Das sind Fragen, die einem nicht in den Kopf kommen, wenn man die Bilder von all den glücklichen Menschen mit Down-Syndrom sieht. Und doch gehören sie zum ungefilterten Alltag so vieler Eltern und auch meiner Gastmutter, mit der ich viele Gespräche über dieses Thema führte. Viele von ihnen fühlen sich allein gelassen mit diesen Sorgen, die zu selten in den Medien angesprochen werden. Vielleicht ist die Angst zu groß, dass die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche nach der Diagnose von Trisomie 21 noch weiter steigt, um es zu einem Thema zu machen. Aber ist es nicht das, was hilft – darüber sprechen?

Laut einem Spiegel Artikel aus dem Jahr 2017 werden neun von zehn Schwangerschaften in Deutschland, bei denen das Down-Syndrom festgestellt wurde, abgebrochen. In den skandinavischen Ländern Dänemark, Schweden und Norwegen sehen diese erschreckenden Zahlen leider nicht anders aus. Im Februar 2020 berichtete Daily Mail Online darüber, dass der Abbruch einer Schwangerschaft in Großbritannien noch weit nach der 24. Schwangerschaftswoche möglich ist, wenn das Down-Syndrom diagnostiziert wird. Durch dieses Gesetz wird dem Leben eines betroffenen Kindes nicht nur weniger Wert zugesprochen, sondern auch der Weg zur Abtreibung zugänglicher gemacht.

Auf der Website der Bundesregierung steht zum Thema “Trisomie 21 – Inklusion weiter vorantreiben”, dass daran gearbeitet werde, dass Kinder die gleichen Kindergärten und Schulen besuchen und dass Menschen mit Down-Syndrom breitere Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt erhalten sollen. Aber wo sehen wir diese Bemühungen um Integration in Talkshows, in der Modebranche, in den Nachrichten?

Ein Model mit Trisomie 21 bei Victoria’s Secret ist ein Fortschritt, aber nicht genug. Eine öffentliche Präsenz ist nötig, um das Thema für die breite Masse nahbar zu machen und um zu zeigen, was trotz eines zusätzlichen Chromosoms möglich sein kann. In Deutschland leben Schätzungen zufolge betroffene 50.000 Menschen und in Europa kommt es jährlich zu ca. 8.000 Geburten von Kindern mit Trisomie 21. Eine gezielte Aufklärung darüber, wie ein Alltag mit einem Kind mit Down Syndrom aussehen kann und dass er nicht nur zu bewältigen ist, sondern ein erfülltes Leben verkörpert, ist demnach essenziell.

Durch die Erfahrung, meine Gastfamilie ein ganzes Jahr lang begleiten dürfen, weiß ich, dass ein Kind mit Down Syndrom zur Lebensaufgabe werden kann. Durch mein Gastkind durfte ich aber auch lernen, was es heißt, das Leben mit all seinen Facetten bedingungslos zu lieben. Ich wünsche mir, dass dieses Glück noch viele andere Menschen erfahren können.

Title
Lorem ipsum