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Dear Diary, Seite 3: Wie komme ich hier raus?

Das beschissene Gefühl, die Kontrolle über sich zu verlieren

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[Triggerwarnung: Dieser Text enthält explizite Beschreibungen einer Panikattacke.]

Atme, denke ich. Alles ist gut. Nichts ist gut, antwortet mein Körper, während irgendwo ganz tief in meinem Bauch ein Gefühl der Unruhe mit gewaltiger Wucht gegen meine Rationalität anzukämpfen versucht. Sei nicht albern, denke ich. Ein Schritt vor den anderen, Rücken gerade, die Schultern einmal ausschütteln. Es wird nicht passieren, ich habe die Lage im Griff. Linker Fuß, rechter Fuß, Blick nach vorne, zielgerichtet, bis ich mein Auto erreiche. Ich fühle mich wahnwitzig, als ich die Tür aufreiße und noch im selben Atemzug hinter mir schließe, als verfolge mich irgendjemand, der in Wahrheit gar nicht existiert. Beide Hände um das Lenkgrad, Stabilität spüren, die Füße in den Boden drücken. Atmen. Ich atme schneller, als ich will. Atme langsamer, Gott verdammt! Mein Herz bricht aus seinem gewöhnlichen Rhythmus aus. Wird schneller und schneller. Das Gefühl in meinem Bauch bahnt sich seinen Weg in meine Brust, droht, sie zu sprengen.

Es passiert doch. Bitte nicht, fleht eine innere Stimme, bitte nicht. Der Rollkragen um meinen Hals legt sich enger. Der Stoff auf meiner Haut verwandelt sich in Millionen kleiner Nadeln. Die Temperatur im Raum steigt. Mein Atem wird zu Hecheln. Der Damm der Tränen bricht. In diesem Moment stoppe ich den Widerstand, gebe mich meiner Panikattacke ganz hin. Was dann passiert, weiß ich nicht. 

Wer noch nie eine Panikattacke hatte, wird diese Zeilen gelesen haben und sich denken: Sie hat sie nicht mehr alle. Und, ehrlich? Ich verstehe das, wirklich. Um ganz offen zu sein – ich selbst denke es mir manchmal auch, obwohl ich es besser weiß. Ich hatte Jahre zuvor in einem Podcast mal die Anekdote einer Frau angehört, die den Notarzt rief, weil sie dachte, sie hätte einen Herzinfarkt, während sie in Wahrheit nur eine Panikattacke erlebte. Ich konnte mir ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen. Mein Gott, wie verweichlicht wir doch geworden sind.

Und dann war ich irgendwann, vor drei oder vier Jahren, nachts unterwegs in meinem Auto, die Welt drehte sich, wie sie es immer tat, und ich erlebte es zum ersten Mal selbst: das plötzliche Gefühl von unsichtbaren Kräften attackiert zu werden. In strömendem Regen stand ich mit Warnblinker am Straßenrand einer Schnellstraße und hatte das Gefühl, Steine, nein, Felsen auf meiner Brust liegen zu haben. Dass das mein Ticket war in die wilde Welt der Panikattacken, verstand ich erst, als es Monate später ein zweites Mal passierte. Ab da spürte ich sie voller Ehrfurcht: tiefe Empathie für die Frau, die damals einen Notarzt rief.

Heute, während ich diese Zeilen schreibe, ist „der Tag danach“. Während andere vermutlich gerade ihren Kater aussitzen, sitze ich meine Emotionen aus. Oder, naja, schreibe sie aus. Panikattacken erleiden unglaublich viele Menschen. Müssen die sich dafür schämen? Bloß nicht. Schäme ich mich trotzdem irgendwie dafür? Ja. Um mich weniger als Sonderling zu fühlen, informierte ich mich über Mitbetroffene und stellte fest: Alleine in Deutschland leiden ungefähr 12 Millionen Menschen an einer Angststörung mit Panikattacken. Trotzdem – sie passen so gar nicht in mein Selbstbildnis, welches ich (meist) liebevoll hege und pflege. In meiner Vorstellung bin ich eine dieser Heldinnen, wie sie in Film oder Literatur porträtiert werden: eine junge Frau, die Gutes bewirkt, gleichermaßen Stärke und Sanftmut ausstrahlt, voller Liebe durchs Leben geht, ohne sich von irgendwem verarschen zu lassen. Schon gar nicht von den eigenen Gefühlen. Schon gar nicht von Rollkragen, die sie vermeintlich erdrosseln, um Himmels willen! Jemand, den man gerne als beste Freundin hat, gerne als Partnerin, gerne als Tochter oder Schwester. Da kommt es gänzlich ungelegen für mich, wenn sich diese Figur plötzlich in ein jämmerlich schluchzendes Etwas in schweißdurchtränkter Klamotte verwandelt, welches sich an sein Lenkrad klammert und hechelt, als würde die Welt unter seinen Füßen in jedem Moment wegbrechen. Und, der vollständigen Darlegung dieser Lächerlichkeit halber, noch der Zusatz: grundlos! 

Die eine Hälfte meines Gehirns, die emotional getriebene, die mich irreführen will, blickt so auf meine Panikattacke(n) zurück. Sie verhöhnt sie. Die andere Hälfte meines Gehirns weiß: Es ist nicht meine Schuld. Psychische Probleme sind kein Schandfleck. Ich bin klug genug, um zu verstehen, dass Panik in diesen Momenten völlig unbegründet ist. Und doch nicht naiv genug, um zu glauben, dass sie nicht irgendwo ihre Ursprünge hat. Meinen Körper kann ich nicht bescheißen, der ist schlauer als mein Kopf. Vielleicht liegen diese Ursprünge in Erlebnissen, die ich die längste Zeit in den tiefsten Tiefen meines Erinnerungsarchivs verstaut habe – bis sie sich, rostig und verstaubt, heute wieder an die Oberfläche meines Bewusstseins bahnen, getriggert durch schier unsinnigste Momente, zum Beispiel: Ich finde den Parkautomaten im Parkhaus nicht. Panik. Ich fahre nachts im Auto und habe kaum noch Sprit im Tank. Panik. Es klingt bescheuert, ich weiß. Fühlt sich auch so an. Da kann man sein Leben noch so gut im Griff haben, noch so sehr hustlen, noch so sehr die Heldin spielen. Wenn's einen erwischt, erwischt's einen.

Ich muss es wohl ernst nehmen, das Zeichen, das mir mein Körper gibt – auf diese ätzende, beängstigende und nahezu sarkastische Art und Weise. Vielleicht muss ich den „Keller“ mal wieder aufräumen. Oder eher einmal gründlich, statt nur durchzufegen.

Also sitze ich jetzt hier, am „Tag danach“, noch immer mit einem aufgeregten, unwohlen Gefühl in meiner Bauchgegend, noch immer skeptisch, ob die Welt wirklich wieder in Ordnung ist, und halte es einfach aus.

Ich halte es aus, indem ich das tue, was ich immer tue, wenn alles schwer ist: schreiben, was am meisten wehtut. 

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