Von Macht und Ignoranz
Wie ich vergewaltigt wurde und alle anderen wegsahen
Hier könnte ebenso gut deine Geschichte stehen. Egal wie sie auch aussehen mag – du hast niemals Schuld an ihr. Niemals.
Mein Name ist Ananya, kurz: Ana. Ich bin 17 Jahre alt und groß geworden in einer kollektivistischen- aber auch individualistischen Gesellschaft. Einfach gesagt stamme ich ursprünglich aus Thailand, lebe heute in Deutschland. Für diese Geschichte ist dieses Detail jedoch völlig unerheblich. Wie ich erzogen worden bin oder wie ich aussehe – all das spielt hier keine Rolle. Meine Geschichte ist gleichzeitig die Geschichte unzähliger Frauen auf der ganzen Welt. Als traumatische Vergangenheit, brutale Gegenwart und mit trauriger Gewissheit auch niederschmetternde Zukunft.
Die Nacht des 29.05.2020
Ich war zu diesem Zeitpunkt fünfzehn Jahre alt. Die Tage wurden immer länger, das Wetter wärmer. Wir waren in dieser Nacht verabredet, um die Sterne im Feld zu beobachten. In jugendlicher Unschuld. Ein schönes Bild, oder? Nur wir zwei, Freunde, in den Himmel starrend. Ein schönes Bild, das von Schamlosigkeit überschattet wurde. Dass wir Freunde waren, spielt für die Schamlosigkeit, die dann stattfand, eigentlich keine Rolle. Es spielt auch keine Rolle, dass ich in seinen Armen lag und wir uns geküsst hatten. Er überschritt Grenzen, die ich ihm mehrmals mitteilte.
Ich erinnere mich an die Schwere seines Körpers, die mich gegen den gepflasterten, steinigen Boden am Rande des Feldes drückte. Mehrmals nahm er meine Hand und führte sie seinen Körper hinunter. Immer wieder zog ich sie weg. Auch seine Hand wanderte meinen Körper hinunter und ich zog diese weg. Er fing an, sich an meinem Leib zu reiben und sein Becken gegen meines zu stoßen. Ich erstarrte, fragte mich, wann es endlich vorbei sein würde. Wann alles endlich ein Ende nehmen würde. Noch Tage spürte ich seine Bewegungen in meinen Knochen gespürt.
“Warum bist du nicht einfach weggegangen?”
Auf dem Weg zum Heute begegnete mir oft die Waage der Schuld. Meine Gefühle wurden mit gegen den Grad seiner Schuld aufgewogen. “Ana, er sagte, du wolltest es. Außerdem wurdest du nicht vergewaltigt, sondern nur von ihm genötigt, oder?“ Das klassische Victim-Shaming. Ich selbst traute mich sehr lange nicht, die Tat als solche zu benennen, die sie nun einmal war. Ja, es stimmt, dass ich selbst die längste von einer sexuellen Nötigung gesprochen hatte, wenn ich mich jemanden anvertraute. Heute ist mir klar: Das Eindringen in den Körper ohne Konsens ist Vergewaltigung.
Ich sagte sehr oft Nein. Ich sagte es nicht nur, mein Körper signalisierte es, so stark er konnte. Wer entscheidet in letzter Instanz, welche Parameter gegeben sein müssen, um offiziell von einer Vergewaltigung zu sprechen? Spielt dabei denn keine Rolle, dass ich Tage lang nicht richtig sitzen konnte? Mich geschämt habe für den Machtmissbrauch, den er mir gegenüber ausspielte?
Das Bild, als er mir sagte, ich solle auf die Knie gehen, ist in mir eingebrannt. Ich wollte es nicht, ich wollte es nicht, ich wollte es nicht. Und ich sagte es ihm. Doch das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein und die Angst davor, ihn zu verletzen, zwang mich in die Knie. Wortwörtlich. Ich hasste es – hasse es immer noch –, wie er von oben auf mich herabschaute. Alles, was ich spürte, war Würgereiz. Ich konnte nicht und wollte nicht. Alles ekelte mich an. Sein Geruch, sein Geschmack- er. Er ekelte mich an.
Nichts als Leere
Die Sonne erhob sich über uns, während ich nur fliehen wollte. Mit jeder meiner Faser meines Körpers wehrte sich mein Inneres, ihn noch einmal in meinem Mund fühlen zu müssen. “Warte, lass mich was ausprobieren”, sagte er. Alles ging so schnell. Er packte meinen Kopf erneut und drückte mich an ihn. Ich würgte. Nochmal. Das war zu viel. Ich hatte die Kontrolle jetzt vollends abgegeben. Nein, das stimmt nicht: Er raubt sie mir. Das weiß ich heute.
Nach dieser Nacht fühlte ich nichts als Leere. Meine Eltern durften auf keinen Fall etwas davon erfahren. Meinen engsten Freunden vertraute ich mich an. Die Reaktionen darauf sind nichts anderes als das, was ich mittlerweile nichts anderes als gesellschaftliches Versagen bezeichnen kann. Exemplarisch:
"Ich hätte mich doch anders ihm gegenüber verhalten, hättest du bloß gesagt, dass er dich vergewaltigt hat!" – “Ich glaube nicht, dass er sowas gemacht hat. Außerdem weiß ich doch, wie Ana ist. Sie spielt mit ihren Reizen.“– “Ich will mit eurem Drama nichts zu tun haben.“
Ich wurde nicht mehr eingeladen. Man schloss mich aus. Das Urteil: Es sei alles meine Schuld. Weil ich es nicht sofort als Vergewaltigung betitelt hatte, konnte es auch keine sein. Eines Tages bekam ich eine Nachricht von ihm. Er nannte mich eine Schlampe, hirnlos, und dass er sich an der Tatsache erfreute, dass keiner mehr etwas von mir wissen wollte. Es wäre besser gewesen, ich hätte meine dumme Fresse gehalten.
Ich schämte mich für alles, was passiert war. Das Schlimmste ist, dass ich auch noch Mitgefühl dafür empfand, dass manch eine:r ihn doch einen Vergewaltiger nannte. Das Schuldgefühl trieb mich so weit, dass ich ihn mit Hilfe seiner Mutter bei ihm zuhause besuchte und mich für all die Unannehmlichkeiten entschuldigte. Ich entschuldigte mich! Ich – mich! Schon wieder ein Machtgefälle, dem ich mich unterwarf. Ich saß auf dem Boden, er auf einem Stuhl, ich schaute zu ihm hinauf. Zum letzten Mal.
“Wenn einer Oma auf der Straße die Perlenkette geklaut wird, sagt niemand, dass sie die nicht hätte anziehen sollen!”
Diesen Satz predigte meine Psychologin immer und immer wieder, um zu verdeutlichen, dass ich nicht die Verantwortliche bin. Mit ihrer Hilfe lernte ich zu begreifen, was mir wirklich passiert war. Dass ich vergewaltigt wurde. Ich brauchte ein paar Tage, um diese Information zu verdauen. Plötzlich war ich eine von “ihnen”. Eine von euch.
Das Opfer ist niemals Schuld an der Gewalttat, die man[n] an ihr ausübt. Es sind die Täter:innen, verleitet durch die Ausübung ihrer Macht purer Ignoranz. Aber auch die Gesellschaft, die Frauen lehrt, sich zu bedecken und zu verstecken. Eine Gesellschaft, die vielen Männern toxische Maskulinität beibringt. Ein Lebensstandard, der mehr harm als charme bedeutet. Ich sehe ihn wie einen Parasiten, den wir unmöglich loswerden, solange Gleichberechtigung nicht tief in uns verwurzelt ist, einen Parasiten, der rape culture begünstigt. Wie tief der Ausschnitt, wie kurz der Rock oder wie groß die Brüste doch sein mögen – nichts davon darf als „Rechtfertigung“ hinhalten.
Ich bin den richtigen Weg gegangen
Mein Freund sagte eines Tages zu mir: „Ananya, du bist den richtigen Weg gegangen.“ Für mich bedeutete das gleichzeitig ein Versprechen und Akzeptanz, mit der ich gar nicht gerechnet hatte.
Zwar warte ich noch heute auf den Befreiungsschlag aus meinen Schuldgefühlen, aber die Morgen, an denen ich mir wünschte, ich würde nie wieder aufwachen, werden weniger. Auch hämmere ich meinen Kopf nicht mehr gegen Wände, um die schrecklichen Bilder vergessen zu können. Ich drücke mir auch nicht mehr meine langen Fingernägel in die Handinnenfläche, um von dem Schmerz in meiner Brust abzulenken.
Ich bin noch nicht geheilt, aber mein Partner ist doch irgendwo mein Retter. Auf dem Weg zur Heilung trägt er mich auf seinen starken Händen. Es gibt gute Tage und schlechte Tage. Und manchmal holt mich die Vergangenheit ein.
Doch wenn die Lügen in mir anfangen aufzusteigen, muss ich mit der Wahrheit entgegen wirken. Ich trage keine Schuld. Ich trage keine Schuld. Ich trage keine Schuld. Auch du tust das nicht.