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New Gold

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gibt es denn

noch irgendetwas, irgendwo

für das sich alles das

hier lohnt?

Steven Seinberg – Reflection of the Sun - 2022 – Oil, acrylic, charcoal and graphite on canvas, 60x70 inches

Seit einiger Zeit sind die Dinge anders. Ich verstehe so vieles nicht mehr. Welche Rolle spiele ich hier noch? Wo kann ich hin mit mir? Kann ich noch Frieden finden oder ist es vorbei? Die Welt, wie ich sie kannte, ich sehe sie nicht mehr. Ich verstehe die neue nicht. Alles ist nur eine Hülle von dem, was früher echt war. Die Wände – früher konnte ich mich dagegen lehnen, sie würden mich halten – heute brechen sie einfach ein, wenn ich das tue, sie geben nach, reißen ein wie altes Papier. Je mehr ich mich darauf verlasse, dass sie mich halten, desto fragiler sind sie. Als würde ich in einem Jahrzehnte-alten Papp-Modell meines Lebens stehen und die letzten Momente vor dem Verfall miterleben.

Im Radio, das immer läuft, verlesen sie Nachrichten, nichts anderes mehr als Nachrichten. Und keine davon sind gut. Die schlechten Nachrichten sind lang schon zur Gewohnheit geworden, nichts schockt mehr, nichts tut noch wirklich weh, aber die bloße Flut an Neuigkeiten raubt mir die letzte Kraft. Und sie lesen sie vor als wäre es nichts weiter. Die Welt ist eine Neue aber nichts ist mehr neu.

Alles kommt mir fremd vor.

Die Uhr tickt schneller als sonst. Ich sehe förmlich, wie mir die Zeit davonläuft. Die Sekunden ziehen an mir vorbei wie das Wasser in einem Fluss. Wenn das so weitergeht, ist es bald vorbei mit mir, dann läuft die Zeit einfach ab. Jemand hat sie schneller gemacht, aus Versehen vielleicht, und jetzt einen riesigen Scherbenhaufen zurückgelassen, den ich nicht alleine aufsammeln kann. Der Fluss wird immer voller, immer lauter und immer reißender. Als würde die Zeit schneller vergehen, je länger man ihr dabei zusieht. Meine Brust wird mir zu eng.

Die Zeit vergeht doppelt so schnell wie ich es von früher kenne und das macht mir große Angst. Sie nimmt alles mit sich, was mir lieb war. Sie schiebt mich von allen Seiten. Und obwohl sie rast, völlig ohne Mitleid rast, kommt es mir vor, als würde nichts mehr passieren. Seit Jahren sind wir alle nur noch Teil eines riesigen, nie dagewesenen Verfalls. Was schön war, ist längst nicht mehr da, ob es je wieder etwas geben wird, das es ersetzen kann, ich weiß es nicht. Die Zeit rafft alles an sich.

Ich gehe raus, bevor sie auch mich verschlingt.

Die Wolken am Himmel sind schwarz. Die Sonne, die durch sie scheint, taucht die Welt in Farben, die nicht schmecken. Dinge sind graugelb und schimmern wie Säure. Die Blumen an der Straße, die wenigen, die wir übrig gelassen haben, wirken, als würden sie einfach zerbrechen, würde ich sie berühren. Es ist heiß und trocken, keine Spur von Luftfeuchtigkeit weit und breit. Ich lebe in der Dune-Dystopie, aber so schlimm habe ich es nicht erwartet. Alles, was ich sehen kann, ist kurz davor, zu Staub zu zerfallen, inklusive mir selbst. Meine Haut spannt und hat Risse, sie sieht aus wie der Boden nach einer wochenlangen Dürre. Es donnert ab und an mal doch es regnet nie. Die Luft riecht nach Schwefel und die Bäume bestehen aus verblichenem Plastik. Was immer ich sehe, ist vergilbt. Welk. Kurz vor dem Ende. Meine Augen sehnen sich nach Glanz, etwas Neuem, etwas, das Mut macht.

Und für alle ist es normal.

Ich sehe den Leuten an, dass sie sich nicht die kleinste Spur wundern über das, was mir auffällt in letzter Zeit. Leute gehen nur noch an mir vorbei, niemand nimmt jemanden wahr, man läuft nur aneinander vorbei und ignoriert sich. Es ist nicht wie früher, als man vielleicht aus Anstand oder Scham den Menschen nicht ins Gesicht geblickt hat, es ist eher so, dass niemand mehr für den anderen existiert. Die Werbeplakate in den Straßen sind wie ein Knall. Die Farben sind grell aber nicht glücklich. Sie sind laut und aggressiv. Sie schüchtern mich ein. Sie sind Warnungen. Die Werbung sagt mir, lass es sein, lass es gut sein, rette dich, es ist vorbei mit allem. Nimm dir deine Liebsten und presse das letzte bisschen Freude raus aus dieser vertrockneten, sterbenden Welt, so lange noch irgendetwas übrig ist. Du wirst nicht mehr gerettet, die Welt wird nicht mehr gerettet, retten kannst du dich nur noch selbst und das auch nur wer weiß wie lange noch. Aber wie, womit? Meine Fantasie ist am Ende und schlägt mir keine Lösung vor.

Ich denke an früher und es bricht mir das Herz.

Früher gab es wilde Tiere und grüne Wiesen, ich habe seit langer Zeit weder noch gesehen. Nur ein Vogel ist mir vor Tagen begegnet, er war tiefschwarz und eine ölige Substanz tropfte aus seinen Federn. Er pickte den Dreck aus dem Boden auf der Suche, grub, als wäre dort unten noch etwas Leben, doch da war nichts außer Staub und tote Erde, die sich sofort auflöste und im Himmel verschwand wie alles andere. Er registrierte mich und blickte mich an, als würde er mich sofort fressen, wenn ich nicht mehr könnte. Ich erinnere mich, wie zum ersten Mal in der Zeitung stand, dass das große Artensterben begonnen hat. Die Tiere, die ich aus den Kinderbüchern kenne, sind fast alle ausgestorben. Diese Menschen, die ich nicht mehr verstehe und ich und ein paar wenige besonders anpassungsfähige Lebewesen sind alles, was noch da ist auf diesem verzerrten brachen Planeten. Der Point of no return ist lang überschritten. Umso einsamer fühlt es sich an. Muss ich nach dem Leben graben, wie der Vogel es getan hat? Ich verstehe nicht, wie alle einfach weitermachen können.

Und die Hoffnung ist ein altes Buch ohne Zeilen darin.

Die Schatten die ich nach mir ziehe werden länger und länger. Wenn die Augen mir mal zufallen, schlafe ich nicht. Wenn ich schlafe, verschwinde ich noch schneller. In dieser Welt werde ich mich nicht mehr lange halten können. Ich merke, wie ich mich langsam, ganz langsam, auflöse und immer mehr zum Staub meiner grässlichen Umwelt werde. Ich kann das, was ich gerade noch bin, kurz darauf durch die Luft wirbeln sehen, Partikel von mir steigen auf in den Himmel und wirken ganz unrealistisch wie kleine Pixel. Ständig sieht man etwas in der Luft einfach verschwinden. Als würden die, die langsam aufwachen endlich geholt werden aus diesem Albtraum. Und trotzdem macht es mir Angst, nichts in mir will einfach zerfallen und vorbei sein. Die Atmosphäre kratzt und macht Geräusche, als würde Metall auf Metall krachen. Als würden die Gesetze der Physik nicht mehr gelten und alles langsam aus den Fugen geraten. Mein Zuhause ist schon lange keines mehr, aber hier draußen kann ich auch nicht bleiben. Und was nach wie vor ausbleibt ist die zündende Idee.

Nimmt die Luft mich mit oder die Zeit mit jedem Tick...

Welche Wahl habe ich noch?

Das Wasser aus dem Hahn ist schwarz und schwer. Es trinkt sich dick wie Pudding und schmeckt verstaubt. Ich trinke es so viel ich kann und tauche immer tiefer ein in diese neue Welt. Mehr davon, mehr, bis ich es nicht mehr schlucken kann und es mir nur noch durch den Mund läuft. Ich möchte nicht mehr raus. Ich möchte aber auch nicht hier bleiben. Welche Wahl habe ich noch? Wie soll ich so ein Leben aushalten? Mein Magen wiegt schwer in mir. Ob die Menschen sich früher schon einmal so gefühlt haben? Als die Pest ausbrach vielleicht? Was trieb sie an, weiterzumachen? Was soll mich denn noch aus diesem Elend holen, wenn mir schon die Werbung sagt, dass es vorbei ist? Ich kann das Wasser aus der Leitung trinken, bis ich daran sterbe oder ich kann so weit laufen, wie es mich noch trägt, aber was soll kommen? Soll ich da draußen auf Gold stoßen? Soll ich es machen wie die Gold Diggers, die ihrem alten Leben entkommen sind? Was um alles in der Welt würde mir Gold jetzt noch bringen? Oder Öl? Oder Bits? Oder Schutzräume? Oder Wasser?

Hat jede Krise ihr new gold? Oder haben wir es diesmal endgültig geschafft?

Der Küchenstuhl löst sich langsam vor mir auf. Ihm folgen der Tisch und die Schränke. Die Bilder an den Wänden, die Töpfe, in denen vor langer Zeit mal Pflanzen waren. Die Luft flirrt. Die kleinen Pixel überall. Meine eigenen Hände.

Schließlich verstummt mein Radio. Das war es also mit den Nachrichten. Kurz knistert es, dann läuft ein Band und spricht ganz monoton: "Rette sich, wer kann. Rette sich, wer kann. Rette sich, wer kann..."

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