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Ein Abschiedsbrief an meine toxische Beziehung

10 Jahre später hole ich mir mit diesen Worten meine Kraft zurück

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Ich renne in den Wald, getrieben und geleitet von der Stimme in meinem Kopf, die immer wieder spricht: Lauf schneller, bis du die Musik nicht mehr hören kannst. Schniefend und schnaufend bleibe ich irgendwann stehen und halte inne. Um mich herum nur Bäume, Tiergeräusche, sonst nichts. Mein Handy leuchtet auf: 15 Anrufe in Abwesenheit, immer derselbe Name.

Ich habe keine andere Wahl. „Hallo?". „Ich weiß, dass du auf der Party bist, obwohl ich es dir verboten habe. Du gehst sofort nach Hause, haben wir uns verstanden?“. In mir steigt Panik auf. Woher weiß er das? Ich drehe mich um und fühle mich beobachtet. Werde ich jetzt irre? Er kann nicht hier sein. Nur ein Bluff, um mich zu testen? Wenn ich jetzt die Wahrheit sage, was würde passieren? Was wären die Konsequenzen?

„Rede mit mir, sag die Wahrheit!“, schmettert es mir schroff durch den Hörer entgegen. Ich erwidere unsicher: „Ich bin zu Hause.“ „Lüg mich nicht an!“ Doch genau das erscheint mir als die einzig sichere Lösung. Ich ziehe es also durch: „Nein wirklich, ich bin zu Hause, das Fenster ist nur auf und meine Freundin ist doch da.“ Er lacht wieder: „Okay, gut, dann rufe ich dich gleich auf dem Festnetz an.“

Gestresst lege ich auf, mein Herz schlägt mir bis in den Hals. Er würde mich gleich auf dem Festnetz anrufen – und ich bin 25 Gehminuten von meinem Zuhause entfernt. Ängstlich spute ich los, in der Hoffnung, dass er noch nicht angerufen hat. Wieder bin ich gefangen in einem Teufelskreis aus dem Wunsch nach Freiheit und der großen Angst vor ihm und den Konsequenzen, wenn ich ihn verlassen würde. Fuck, was, wenn er wirklich angerufen hat?

Wie konnte ich in einer toxischen Beziehung landen?

... ich sei schließlich hässlich, fett und dumm.

Am Anfang war alles irgendwie anders, nicht so unerwartet schädlich für zwei Seelen. Erst Zuckerbrot, dann Peitsche. Ich war nie die Frau, auf die Männer standen, sondern immer eher der Kumpel-Typ. Umso schmeichelhafter empfand ich die Liebesbriefe, Karten und die normale anfängliche schmeichelhafte Eifersucht, die mir seinerseits zuteil wurde. Sie ließen mich begehrenswert, attraktiv und einzigartig fühlen. Nicht ahnend, dass diese anfängliche Eifersucht irgendwann zu einer besitzergreifenden, unkontrollierten und erdrückenden Konstellation werden würde. Ich verlor Freunde und reduzierte den Kontakt zu meiner Familie, ich isolierte mich. Er isolierte mich.

Immer wieder wurde mir von ihm klar gemacht, dass ich dankbar für ihn sein sollte, ich sei schließlich hässlich, fett, dumm und unbrauchbar. Nach ihm würde es niemanden mehr geben, der mich lieben würde. War dies jetzt mein Schicksal?

Von anfänglicher Harmonie zur Waffe im Handschuhfach

Seine unkontrollierten Wutausbrüche häuften sich. Linear dazu wuchs meine Angst. Einmal öffnete ich das Handschuhfach seines Autos und fand eine Waffe darin. Er drohte mir nie damit, aber wozu wäre er theoretisch in der Lage gewesen? Wer war dieser Mann?

Ein anderes Mal fasste er mir ins Gesicht, spuckte mich an, setze mich mitten in der Nacht vor die Tür und trat mir die Beine weg, wodurch ich auf den Boden fiel, während seine Freunde daneben standen. Sie rieten mir, mich besser bei ihm zu entschuldigen, dann würde er sich schneller wieder beruhigen. Ich glaubte ihnen! Ich glaubte ihm! Er entschuldigte sich immer wieder, gelobte Besserung und schwor, mich zu lieben und alles dafür zu tun, damit es funktionierte. Vor meiner Familie trat er ohnehin auf wie ein wahrhafter Engel. Ich vertraute ihm immer wieder. Schließlich hatte ich gelernt, dass Hürden und Abzweigungen zu einer Beziehung dazugehörten und Herausforderung gemeinsam gemeistert werden sollten.

Eine gebrochene Frau

Am Ende jeder fürchterlichen Situation war ich immer die Schuldige. Ich war gebrochen, ich entschuldigte mich oft, verteidigte ihn. Wer sollte das auch alles glauben? Das konnte ich ja selbst nicht. Bis ich irgendwann den festen Entschluss traf, jetzt endlich alles aufzuräumen. Ich war nun die geborene Ermittlerin, hatte das unumgängliche Gefühl, diesen Mann in all seinen Abgründen eigentlich gar nicht richtig zu kennen, nie richtig gekannt zu haben.

Seine Familie hielt die ganze Zeit zu ihm. Ich würde mich irren, ich sei irre, alles Einbildung. Dieser Engel von einem Mann würde niemals jemandem etwas tun! Ironisch nur, dass man meiner damaligen Schwägerin in spe Schläge angedroht hat, wenn sie mir von irgendwelchen Geheimnissen erzählen würde.

Eine verschloss jedoch nicht die Augen: seine Oma. Eines Tages nahm sie mein Gesicht in beide Hände, gab mir einen Schnaps und sagte: „Mein kluges Kind, was machst du nur? Du bist doch so schlau, sieh hin. Bitte.“ Am Ende sollte sich herausstellen, ich hatte mit allem Recht. Mit allem. Hässliche Geheimnisse wurden aufgedeckt, es war, wie ich es vermutete – dieser Mensch, mit dem ich fast drei Jahre meines Lebens verbrachte, war mir im Grunde völlig fremd. Die Details sind zu weitreichend, um sie hier niederzuschreiben, doch ich denke, das alles hier reicht als Vorgeschmack. Ich packte eine Tasche mit meinen wichtigsten Besitztümern und einem Notfallhandy, falls es jemals soweit kommen würde, dass ich fliehen müsste.

Der Tag, der alles veränderte

An einem Tag bekam er einen Wutausbruch, warum, weiß ich nicht mal mehr. Es ist ja nicht so, als hätte es jemals einen wirklich triftigen Grund dafür gegeben. Er riss alle Bilder von den Wänden unserer – einst meinen – Wohnung, zerschmetterte diese auf seinem Knie, brüllte mich an und versuchte, mir damit wieder einmal Angst zu machen. Doch diesmal ließ ich das nicht zu. Genüsslich Spaghetti essend saß ich auf dem Sofa und beobachtete seine Rage wie eine schlechte Telenovela. Er wurde immer wütender. Sein nächstes Objekt des Vandalismus sollte nun ein Erbstück meiner Oma sein. Und das war der Punkt, an dem für mich Schluss war. „Wenn du es wagst, diesem Erbstück auch nur einen Kratzer zu verpassen, erlebst du meine Wut, die du sicherlich und für alle Ewigkeit nicht vergessen wirst. Das schwöre ich dir.“ Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Mir war klar: Jetzt scheppert es. Doch es kam ganz anders.

Seine eben noch hasserfüllten Augen füllten sich mit Tränen. Der Mann, vor dem ich immer so große Angst hatte, lag am Boden. In Embryonalstellung auf dem Boden gekrümmt flehte er mich an, nicht so hart zu ihm zu sein. Und das war der Tag, an dem ich mich wieder zurückhatte.

Ich entdeckte eine neue Kraft in mir. Die Kraft der Erkenntnis, Hilfe annehmen zu müssen, die ich dann schließlich bei meinen Eltern suchte. Mein Vater leitete schlussendlich alles in die Wege, um meinen Jetzt-Ex umgehend aus der Wohnung verschwinden zu lassen und tauschte alle Schlösser aus. Ein neues Leben beginnt. Mein neues Leben beginnt. Genau jetzt.

Wenn ich heute, 10 Jahre später, zurückblicke...

möchte ich ihm nicht alleine die Verantwortung geben. Nicht ganz, zumindest. Er hatte diese Macht nur über mich, weil ich sie ihm gab, weil er ganz unterbewusst Glaubenssätze bediente, die so tief in mir verwurzelt waren. Und dennoch, und hiermit richte ich mich an alle, die diese Zeilen gerade lesen: Kein Mensch der Welt hat das Recht, solche Glaubenssätze und Schwächen auszunutzen, um dich zu manipulieren. Wir alle stehen in der Verantwortung, unseren eigenen Schmerz, die Vergangenheit und vielleicht auch Wut auf unser Leben und Sein nicht auf anderen "auszubluten". Wir alle müssen selbst Verantwortung für unser Leben übernehmen und zum Teil auch auf die Gefühle anderer. Aus Angst und Machtmissbrauch ist noch niemals wahre Liebe entstanden. Das führe auch ich mir immer wieder vor Augen, so lange Zeit später.

Falls dir, der oder die du das gerade liest, Ähnliches passiert ist, wünsche ich dir Kraft, Hilfe anzunehmen. Ich wünsche dir Geduld mit deinem Umfeld, das oftmals vielleicht nicht das nötige Maß an Verständnis aufbringen kann, weil Gott sei Dank noch niemand daraus in einer vergleichbaren Situation war. Und ich sage dir, dass du nicht alleine damit bist, wenn es dir schwer fällt, Vertrauen aufzubauen und andere in dein Herz zu lassen.

Und schließlich: Solltest du, du, dies lesen: Ich vergebe dir. Und ich vergebe auch mir.

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