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Dear Diary, Seite 1: Ich halte dich nicht aus

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22.38 Uhr. Mittwochabend. Ich lege mich extra früh ins Bett, dick gewindelt in meine Periodenhose und frage mich, wie miserabel mein Leben war, bevor ich diese grandiose Erfindung kennengelernt habe. Ich muss früh schlafen, weil am nächsten Morgen ein wichtiger Termin wartet. Ich muss fit sein, um jeden Preis.

00:52 Uhr. Ich wälze mich zum hundertsten mal von der einen auf die andere Seite, auf den Rücken, zurück in Embryonalstellung. Scheiße, es geht los, es ist wieder so weit, denke ich, während sich die Messerstiche in meinem Schoß ausbreiten, und auf einmal verwandelt sich die rationale Welt um mich herum in eine Welt, auf die ich wütend bin, eine Welt, die ich nicht mag. Ich weiß, dass die nächsten Stunden extrem qualvoll sein werden. Sich die Menstruationsschmerzen immer weiter durch meinen Körper bohren werden, bis ich mich am liebsten aus ihm heraus schälen würde.

Ich krabble ins Wohnzimmer, irgendwo muss doch noch eine Buscopan Plus liegen. Oder hab ich die bei meinem Freund? Nein, hier ist noch eine. Danke, Gott. Mit übertrieben viel Wasser spüle ich das Teil in meinen Körper, je mehr Wasser, desto schneller da angekommen, wo es sein soll, denke ich mir. Nochmal das Heizkissen in die Mikrowelle stecken und es so heiß werden lassen, bis ich nicht mehr unterscheiden kann, ob meine Nieren jetzt von innen oder außen verbrennen, dann zurück ins Bett.

20 Minuten, dann muss die Tablette wirken. Einen Podcast hören zur Ablenkung. Ich versuche mich auf jedes gesprochene Wort zu fokussieren, als erwarte mich eine Klausur darüber, doch mein Körper reißt meine Aufmerksamkeit immer wieder an sich. Keine Liegeposition ist angenehm, der Blick auf die Uhr macht mich nervös. Es ist nun nach 1 Uhr, ich werde morgen Augenringe haben, ich werde im Termin nicht abliefern können, was, wenn mir jemand anmerkt, was los ist?  

Die Tablette wirkt nicht. Es wird nicht besser. Im Gegenteil. Na mach schon, sagt eine leise Stimme in meinem Kopf, und ich denke an eine andere kleine, halbierte Tablette in meinem Medizinschrank, die da schon eine ganze Weile liegt. Valium. Das Relikt aus meiner Flug-Phobie-Zeit. Hat mich immer beruhigt, wenn an Board die Panik aufkam. Mein letztes Register, der letzte Ausweg. Monat für Monat bin ich stolz, wenn ich ihn nicht gegangen bin.

Ganz kurz denke ich: Ich würde lieber nicht leben, als diese Nächte durchzumachen bis an mein Lebensende.  

Und dann tu ich es, um 1:35 Uhr krieche ins Wohnzimmer, schäle die angebrochene Tablette aus ihrem Blister und spüle sie in mich hinein. Bitte, hilf mir. Jetzt ist es passiert, denke ich, ich habe ein Schlafmittel eingenommen, ein ziemlich dolles, um mich ins Delirium zu schießen. Es setzt schnell ein, das leichte Kribbeln in Händen und Füßen, das Medikament sagt "hallo, ich bin jetzt da".

Und während ich diese Zeilen tippe, Wort für Wort, spüre ich, wie die Konturen der Buchstaben vor meinem Auge langsam verschwimmen, meine Sicht unklar wird. Ich bin jetzt etwas weggetreten. In einer Mischung aus Schuldgefühlen (musste das nun wirklich sein?) und Erleichterung (endlich nicht mehr Schmerz fühlen) werden meine Augen immer schwerer. Ich werde jetzt einschlafen. Endlich. Und morgen Nacht erwartet mich das gleiche. Und dann den Monat darauf. Und dann wieder den Monat darauf. Ich werde mich nie daran gewöhnt haben.

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