Dear Diary, Seite 2: Ich fühle mich einsam
Und traue mich zum ersten Mal, es laut auszusprechen
Die längste Zeit sträubte ich mich dagegen, zu sagen, dass ich mich einsam fühle. Einsam, das ist was für Loser. Ich bin kein Loser. Ergo kann ich auch nicht einsam sein. Es passte nicht in mein Bild der emanzipierten, selbstständigen und ehrgeizigen Frau, die sich doch immer damit rühmt, zu sagen, wie gerne sie alleine sei, wie gut sie mit sich klarkäme. Und das tue ich. Wirklich. Ich liebe mich, und es ist das vermutlich größte Geschenk, das ich mir je selbst gemacht habe, zu dieser Erkenntnis zu kommen. Und dennoch sage ich es jetzt, ja, ich sage es zum ersten Mal laut, obwohl es sich unbequem anfühlt, ich sage es, weil nur im Widerstand Wachstum liegt: Ich fühle mich einsam.
Ich glaube, ich bin hochsensibel. Es ist nicht so, als dass mir hierfür Schwarz auf Weiß eine Diagnose vorläge, falls es eine derartige überhaupt geben kann. Als mir eine fremde Person im Internet – diese Ironie – ganz verständlich einmal schrieb, dass es anhand meiner vergangenen Texte doch ganz klar abzuleiten sei, dass ich zu den Hochsensiblen gehören würde, fühlte ich mich völlig vor den Kopf gestoßen. Schon nach grobem Recherchieren konnte ich alle Checkboxen, eine nach der anderen, abhaken. Es gibt diese eine Definition, die ich ganz schön finde: "Hochsensible hören, sehen, fühlen, riechen, schmecken ohne Filter." In anderen Worten auch: Hochsensible saugen alles in ihrer Umgebung auf wie ein Schwamm. Jeder Reiz, jede Schwingung, jede Stimmung. Das macht sie auch empathisch. Ich liebe es, empathisch zu sein, empfinde es oft als eine Gabe. Nur manchmal eben auch als Fluch.
Es wird ganz schön laut im Kopf, wenn man nicht nur mit den eigenen Gedanken und Gefühlen beschäftigt ist, sondern auch die seines Umfeldes mitverarbeitet. Oft bewirkt das, dass ich durchs Leben gehe und mich eine Welle der Wut und Bitterkeit packt, der ich mich schutzlos ausgeliefert fühle. Ich denke dann: Wieso ist die Welt ein dermaßen fieser Ort? Wie können Menschen so schrecklich miteinander umgehen? Wo ist das Mitgefühl? Die Liebe? Das aufrichtige Interesse aneinander? Die Gespräche, bei denen es nicht um das Antworten, sondern das Verstehen geht? Es frisst mich auf. Dabei habe ich doch gar nichts davon. Ich alleine kann die Welt nicht zu einem besseren Ort machen, und es wäre außerdem extrem anmaßend, anzunehmen, dass nur Menschen wie ich dies könnten. Meine Ratio weiß, dass die Welt nicht nur grausam, sondern auch wunderschön sein kann, und dass es viel mehr gute Menschen gibt als schlechte, zumindest in ihrem Kern. Aber meine Irratio, ich glaube, dieses Wort gibt es gar nicht, benimmt sich manchmal wie ein tobendes Kleinkind, dem am Süßigkeitenregal der Schokoriegel verwehrt wird – wütend, überfordert, hilflos.
Ist es das, was in mir das Gefühl der Einsamkeit auslöst? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist der Grund auch viel platter, viel offensichtlicher: Ich bin weit weg von meiner Familie. "Weit", hier fühle ich mich schon wieder schlecht, weil ich mit "weit" eine Distanz zwischen Hamburg und Baden-Württemberg/Bayern meine und andere Familien in Krisengebieten um das Leben ihrer Angehörigen auf einem anderen Kontinent bangen müssen, aber nun gut, bleiben wir dabei: Ich vermisse sie. Während es mit 18 mein Wunsch war, so weit wie möglich räumliche Distanz zwischen ihr und mir zu schaffen, als ein Akt der Rebellion und Befreiung, so merke ich doch jetzt zunehmend, wie schwer die Last der Sehnsucht wiegt.
Natürlich, ich könnte meine Koffer packen, die Segel hissen und alles hinter mir lassen, um dem entgegenzuwirken. Aber ich habe hier doch mein Leben aufgebaut, habe Freund:innen, die ich liebe, einen Freund, den ich liebe, einen guten Job, meine TOMORROW Familie, eine hübsche Wohnung. Alles, was ich mir in meinem kurzen Leben als Erwachsene aufgebaut habe, habe ich mir hier, genau hier aufgebaut. Ich kann nicht einfach gehen, und eigentlich will ich es auch nicht. Oder will ich es doch? Was will ich überhaupt? Einerseits mich abnabeln, mich den Lasten meiner Familie entziehen, weil sie meine kleinen Schultern manchmal überlasten, andererseits am liebsten 24/7 dafür Sorge tragen, dass es allen gut geht, dass ich allen das zurückgeben kann, was sie für mich getan haben.
Es ist doch paradox, ich schäme mich fast. Mein Freund fragte mich gestern Abend genau das, vielleicht war es sogar das allererste Mal, dass mir, dieser selbstständigen und alles im Griff habenden Frau jemand diese Frage stellte: "Fühlst du dich einsam?". "Ja", schluchzte ich los. Aber es ist doch paradox. Ich bejahe diese Frage, während die Hand meines Lieblingsmenschen über meinen Kopf streichelt und sein anderer Arm mich fest umschlingt.
Generell, das Auffangnetz an Menschen, die mir jederzeit einen Zufluchtsort bieten würden, wenn ich ihn bräuchte, könnte größer und reißfester nicht sein. Wenn ich auch nicht "diese eine Clique" habe wie Leute in den Filmen, so ist mein Büchlein doch voller Adressen, die ich ansteuern könnte, wenn ich es bräuchte. Dafür bin ich dankbar. Gott, wie dankbar ich dafür bin. Und trotzdem, ich habe es ja geschrieben, mittlerweile bereits mehrmals: Ich fühle sie, ich fühle die Einsamkeit.
Was jetzt? Ja, was jetzt? Ich bin klug, ich finde für jedes Problem eine Lösung, aber welche finde ich hierfür? So richtig Ahnung habe ich nicht. Aber während ich schreibe, macht sich eine leise Stimme in meinem Kopf bemerkbar, die mir sagt:
"Du musst erst einmal anfangen, diese Einsamkeit anzuerkennen. Du musst sie herausholen, aus deinem tiefsten Inneren, sie vor dir ablegen, in die Hände nehmen, von allen Seiten betrachten, verstehen, wo sie herkommt. Du musst sie zunächst einmal wahrnehmen, bevor sie gehen kann.
Und dann musst du ihr gut zuhören, während sie dir sagt: "Anni, du bist ein wenig von dir abgekommen. Alles, was du brauchst, damit ich wieder gehen kann, bist du selbst."