Dear Diary, Seite 6: Fünfundvierzig Quadratmeter
Ein Abschiedsbrief an die zwei Zimmer, in denen ich erwachsen wurde
Vor 2541 Tagen bin ich 645 Kilometer weit entfernt in einen kleinen LKW gestiegen, um meinen Weg in die große weite Welt anzutreten. Naja, zumindest fühlt sich das mit jungen 19 Jahren an wie die solche.
Ein Mädchen, ein Traum, viele, viele Kisten. Das Ziel: Ausbrechen. Ausbrechen aus dem kleinen Heimatort, der sich mit jedem vergangenen Jahr, das ich dort verbrachte, anfühlte, als würden seine Mauern immer näher zusammenrücken. Der kleine Heimatort, der mich wohlgehütet aufwachsen ließ, in mitten eines wunderschönen Elternhauses, grünen Wiesen und Straßen, in denen alle alle grüßen. Der kleine Heimatort, der viel zu klein war für den Horizont, den ich mir für mein Erwachsenen-Ich ausmalte.
Und dann war alles zum Greifen nah: Meine erste eigene Wohnung, das Studium in der Großstadt, der Plan, mein Wunschleben in Realität zu verwandeln.
Heute, 2541 Tage später, 26 Jahre alt, muss ich Tschüss sagen – Tschüss an meine fünfundvierzig Quadratmeter, die mich vom Mädchen zur Frau machten.
(Ich habe etliche Male versucht, diesem Text eine Form zu geben, ihn in irgendeinen Rahmen zu gießen, der es mir ermöglicht, genau zu schildern, wie ich mich beim Tippen dieser Zeilen fühle – aber es klappt nicht. So folgt nun ein formloser, rahmenloser Schwall an Worten, denen ich einfach freien Lauf lassen.)
Ich hatte schon häufig in meinem Leben Trennungsschmerz, meistens bedingt durch Männer, Familienmitglieder, Freund:innen. Nie zuvor von einer Wohnung. Zu meinen Freund:innen sagte ich die letzten Jahre immer: „Irgendwann mal mit einem Partner zusammenziehen, das wird so ein krasser Schritt für mich.“ Krass, weil ich außer als Kind mit meinen Eltern und meiner Schwester noch nie zuvor mit jemandem ein Zuhause geteilt hatte – und selbst da genoss ich den Luxus, eine Etage für mich zu haben.
Jetzt ist es so weit. Der Partner meiner Träume ist nun fester Bestandteil meines Lebens (cheesy, ja) und der Umzug steht bevor. Mein Teenie-Ich wäre außer sich, würde mich stolz, glücklich und euphorisch high-fiven und mir zujubeln: „Du bist erwachsen geworden!“ Und auch ich bin außer mir, stolz, glücklich und euphorisch, freue mich über alle Maße auf den neuen Lebensabschnitt und die zukünftige Zweisamkeit.
Und gleichzeitig bin ich traurig. Traurig und ängstlich. Als würde ich einen Teil meines Körpers in meiner alten Wohnung zurücklassen.
Wer hätte gedacht, dass man so sehr an ein paar Rigipswänden und Laminatboden hängen kann? Aber die Wahrheit ist eben: Fast ein Viertel meines Lebens verbrachte ich hier. Wer sieben Jahre lang alleine lebt, der hat sieben lange Jahre lang Zeit, auf diesem Lebensraum seine ganz eigenen Alltagschoreographien einzustudieren. Und gleichzeitig bedeutet das wahnsinnig viel Zeit, um Erinnerungen aller Art zu sammeln – manche bitter, manche süß, alle gleichermaßen verbunden mit diesen fünfundvierzig Quadratmetern.
Nichts, was in dieser Wohnung steht, ist für mich einfach nur ein Möbelstück oder eine Dekoration. Ausnahmslos alles wurde zu einem Erinnerungsträger. Der Spiegel nicht einfach nur ein Spiegel, sondern ein Objekt, das mich beim Erwachsenwerden auf dem Weg zur völligen Selbstakzeptanz begleitete. Der Flur nicht einfach nur ein Flur, sondern der Ort, an dem ich Menschen begrüßte und wiederum andere Menschen (für immer) verabschiedete. Der Schreibtisch nicht einfach nur ein Schreibtisch, sondern der Ort, an dem ich zwei Jahre lang Corona überbrückte. Das Bett nicht einfach nur ein Bett, sondern der Teil meiner Wohnung, an dem ich einst die schlimmste Nacht meines Lebens, später aber auch Nächte völliger Geborgenheit und Sicherheit erlebte.
Kurzum: Dieser Abschied fällt mir schwer. Scherzhaft sagte ich zu meiner besten Freundin Kim, dass ich vor dem Auszug am liebsten nochmal jede Wand ablecken würde (wenn wir mal ganz ehrlich sind, habe ich das auch getan).
Eine neues Kapitel im Leben aufschlagen – das wird immer von allen zelebriert. Wie schwer es trotzdem fallen kann, ein altes zu schließen, das wird dabei manchmal vergessen. Und doch gehört Abschied eben einfach dazu. Also tue ich das jetzt: Ich sage Tschüss, auf Nimmerwiedersehen, an den Ort, der mich erwachsen werden ließ. Der mich durch fast jede mögliche Emotion, die man als junger Mensch fühlen kann, begleitet hat. Ich habe große und kleine Niederlagen erlebt, große und kleine Erfolge gefeiert.
All das auf meinen geliebten fünfundvierzig Quadratmetern. In meinem ersten eigenen Zuhause. Und, scheiß mal auf kitschig – das wird für immer ein Teil von mir bleiben.
Jetzt ab in ein neues Leben. Ich freu mich drauf.