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Die Angst vor dem Gesundwerden

Als stünde ich am Ende des Irrweges und gleichzeitig vor einem reißenden Fluss

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Eine psychische Erkrankung zu managen ist ein Vollzeit-Job. Sie beeinflusst Alltag, Selbstbild, Karriere, Beziehungen – und das meistens auf eine negative Art. Viele Symptome sind einnehmend, der Verlauf nicht selten chronisch. Neben all dem ist es unglaublich anstrengend und langwierig, in Therapie zu sein. Ich selbst bin es seit Jahren und habe mich von einem stationären Aufenthalt zum nächsten gehangelt. Manchmal hatte ich große Therapieziele vor Augen, oft aber einfach den diffusen Wunsch, dass es mir bitte bald besser gehen soll. Dass ich irgendwie gesund sein möchte.

Die große Frage ist nur, wann ich denn eigentlich als gesund – oder zumindest als gesund genug – gelte. Es wird wohl kaum meine Therapeutin um die Ecke kommen und mir eine toxisch positive Patentlösung in die Hand drücken, mit der mein Leben nur noch in Glitzer getränkt stattfindet. Oder meinen Einweisungsschein samt Diagnose, über die sie einen dicken roten "Geheilt"-Stempel gedrückt hat.

Am Ende können wir Menschen nicht eingeteilt werden in "vollständig gesund" oder "komplett krank", sondern befinden uns vermutlich alle irgendwo in dem Raum dazwischen. Auch kann sich die Selbsteinschätzung innerhalb dieses Raums schnell ändern. Es klingt wie eine Floskel, aber es ist wahr: Heilung verläuft nicht linear. Wenn ich mir aber vorstelle, auf der Skala von chronisch krank in Richtung Gesundheit vorzurücken, gibt es einen Indikator, der für mich eine maßgebliche Rolle spielt. Und das ist Selbstständigkeit. Nicht mehr abhängig sein von der psychiatrischen Versorgung. Sie vielleicht noch nutzen bei Bedarf, aber nicht mehr darauf angewiesen sein.

Ich kann die Momente gar nicht mehr zählen, in denen ich mir gewünscht habe, genau das schon erreicht zu haben. Es waren Momente der Verzweiflung. Ich hätte alles dafür gegeben, diese Wunschvorstellung sofort in die Realität umzusetzen. Nicht mehr in Krankenhäusern gefangen zu sein, sondern selbst auf mich aufpassen zu können.

Der Mensch hinter der Störung

In Wahrheit ist der Prozess ein langsamer, fast schleichender. Irgendwann fing ich an, mich selbst und meine Verhaltensmuster besser zu verstehen. Und als diese Baby Steps dazu führten, dass es mir insgesamt besser ging und sich da wirklich eine Art Ausweg auftat – stand dieser Wunsch nach dem ‘Gesundsein‘ plötzlich auf wackeligen Beinen. Als hätte mir jemand ein Haus versprochen, mir dann aber nur ein Grundstück gegeben, worauf ich das Haus noch selbst bauen muss.

Meine wackeligen Beine, auf denen mein Wunsch nun steht, haben mich gerade erst ein kleines Stück aus dem Labyrinth, das sich Borderline-Störung nennt, herausgetragen. Es war ein harter Weg. Und paradoxerweise kommt in mir der Wunsch zum Vorschein, mich direkt wieder in dieses Labyrinth zu verkriechen. Als stünde ich am Ende des Irrweges und gleichzeitig vor einem reißenden Fluss. Hinter mir das Labyrinth, das nur Leid verspricht. Vor mir der Fluss, der mich als einziges Hindernis noch von einem selbstbestimmten und lebenswerten Leben trennt. Was genau dahinter kommt, kann ich nicht sehen. Aber ich spüre, dass es sich lohnen würde. Ich möchte herausfinden, was sich hinter der großen Unbekannten verbirgt: der Mensch hinter der Störung. Die Identität, die ich gefühlt nie hatte, oder die ich nie fühlen konnte.

Der Weg durch den Fluss ist der einzige Weg, der mich endlich wegbringt aus diesem Irrgarten, in dem ich jahrelang gefangen war. Und die Einzige, die ihn überqueren kann, bin ich.

Trotzdem zögere ich und klammere mich an das Leid. Denn selbst wenn ich aus jahrelanger Erfahrung weiß, dass das Labyrinth sich so oft wie die Hölle auf Erden anfühlt, weiß ich da wenigstens, was auf mich zukommt. Ich weiß vielleicht nicht, wie ich aus ihm ausbrechen kann oder es nachhaltig verlassen kann, aber zumindest weiß ich, wo die Schlupflöcher sind. Welche Abbiegung ich nehmen muss, damit alles nur kurz, nur halb so schlimm ist. Ich kenne jede einzelne Ecke. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Das macht die schrecklichste Umgebung immer noch zu einer gewohnten Umgebung. Das Vertraute kann Leid verschleiern, nach außen und nach innen. Und wenn ich jetzt einfach so herausspaziere, war es dann wirklich so schlimm?

Ich bin es leid, ständig zu leiden

Es ist nicht nur das Vertraute, das ich plötzlich aufgeben soll, sondern auch all die Hilfsangebote, an die ich mich so gewöhnt habe. Anlaufstellen wie die Psychiatrie. Und zwar nicht irgendeine, sondern die Psychiatrie. Die, in der ich meine Diagnose und damit die Erklärung dafür bekam, wieso ich mich ständig wie ein Alien unter Menschen fühlte. In der ich unter Menschen war, denen es genau so erging wie mir. Draußen beherrschte ich den Seiltanz zwischen Spiegelung und gespielter Selbstoffenbarung perfekt. Aber hier konnte ich mich plötzlich wirklich zeigen. Hier gehörte ich wirklich dazu, und zwar nicht trotz, sondern genau wegen dem, das uns von all den anderen unterschied. Die Psychiatrie ist der Ort, an den ich mich gewendet habe, wenn ich in tausend Stücke zerfallen bin. Und an dem ich immer wieder aufs Neue zusammengesetzt worden bin. Ich habe hier Wertschätzung für Dinge erfahren, die für andere Menschen selbstverständlich sind. An diesem Ort ist jeder noch so kleine Erfolg der größte der Welt. Für mich stellte die Station einen großen Schutzraum dar. Ich konnte mich fallen lassen, denn hier wurde ich versorgt. Wie ein kleines Kind bei seinen Eltern. Wie ein Kranker im Krankenhaus.

Aber auch wenn ich dieses Gefühl des Beschütztseins vermisse, muss ich mich verabschieden. Es ist an der Zeit, mir dieses Stück Sicherheit selbst zu geben. Damit möchte ich nicht kategorisch ausschließen, jemals wieder eine Psychiatrie von innen zu sehen. Ich möchte nur endlich lernen, mich selbst zusammenzusetzen.

Es ist einfach, umzudrehen und wieder zurück in das Labyrinth zu laufen. Ich kann den Ist-Zustand aufrechterhalten, mir weiterhin selbst schaden und die Augen vor Alternativen verschließen. Aber so langsam merke ich, dass es Zeit ist, den Sprung zu wagen. Ich bin es leid, ständig zu leiden.

Die Hilfe von außen wird immer weniger, die eigene Verantwortung dafür immer größer. Das ist beängstigend. Die Klinik hat mir Schwimmflügel angezogen und mir das Schwimmen beigebracht. Aber den Fluss muss ich trotzdem immer noch alleine überqueren.

5m
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