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Der Krieg ist Realität. Damit müssen wir jetzt leben – Kann mir jemand sagen, wie?

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Sonnenstrahlen durchbrechen zum ersten Mal im Jahr die graue Wolkenfront. Von deren Freundlichkeit eingeladen, strömen Menschenmassen an all die Orte, die im Winter sonst kaum aufgesucht werden. Es ist die Zeit der Hobbyfotograf:innen und Straßenkünstler:innen. Die ersten großen Fotosessions des Jahres. Wohin man auch geht, sieht man die instagrammable Verrenkungen der Körper vor dem Hintergrund weißblühender Magnolien. Die Straßen, die Parks und vor allem die Sommerterrassen Berlins sind wieder mit Leben gefüllt. Auch mich ergreift diese aufkommende Euphorie der Frühlingsromantik. Ich entscheide mich, zu meinem besten Freund zu fahren.

Mein Zug fährt vom Berliner Hauptbahnhof. Wie immer treibt mich die Angst, diesen zu verpassen, etwas früher ans Bahngleis. Heute bin ich besonders früh da und sitze auf der einzig sonnengelegenen Bank mittig zwischen Gleis 13 und Gleis 14. Auf Gleis 14 steht ein ICE nach Zürich bereit und vor ihm tummeln sich die letzten Skiurlauber des Jahres. Ich beobachte aufmerksam eine Gruppe von Männern. Dosenbier trinkend beschallen sie mit lauter Après-Ski-Musik das Bahngleis. Sie lachen und sind sichtlich in Urlaubsstimmung. Für einen kurzen Moment verliere ich mich in der Beobachtung dieser Szenerie, bis die aus den Lautsprechern tönende Bahndurchsage meine Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkt: „Auf Gleis 13 fährt ein: ICE 2308 aus Warschau. Vorsicht bei der Einfahrt.“

Einen Augenblick später fährt der Zug ein. Der schrille Ton des bremsenden Zuges übertönt die nicht weniger ohrenbetäubende Après-Ski-Musik. Hinter den trüben Glasfenstern kann ich im schwummrigen Licht die Konturen der ersten Menschen erkennen. Ich sehe eine junge Frau aussteigen. Sie läuft geradewegs in die Arme einer anderen Frau. Beide weinen. Vielleicht wäre es an dieser Stelle anständiger von mir, mein empfundenes Mitgefühl in Angesicht des Schreckens und der Eskalation der kriegerischen Gewalt zu beschreiben, die sich mir im Augenblick der Ankunft des Zuges vor meinen Augen abspielt. Jedoch muss ich ehrlicherweise eingestehen, dass ich nicht genau weiß, was ich in diesem Augenblick empfinden soll. Ja, ich vielleicht auch gar nichts so richtig empfinde.

Partytourismus und Krieg, Privileg und Verdammung, Glück und Unglück waren zwischen den beiden Gleisen nur einige wenige Schritte voneinander entfernt.

Das Schockierende war: Die Situation zog an mir vorbei, sie nahm ihren Lauf, so schnell, dass mir die Menschen um mich herum unwirklich wie Objekte vorkamen. Auf der einen Gleisseite wurde ich so unmittelbar mit der Trauer des Krieges konfrontiert und auf der anderen Seite bot sich mir die gefühlte Normalität des ersten schönen Frühlingstags dar. Ich fühlte, dass ich nur Frieden finden konnte, indem ich mich dieser Situation emotional nicht stellte. Einen realitätsverleugnenden Rückzug vornahm, der darin bestand, nicht weiter hinzusehen und stattdessen auf mein Handy zu schauen. Bis mein Zug kam.

Partytourismus und Krieg, Privileg und Verdammung, Glück und Unglück waren zwischen den beiden Gleisen nur einige wenige Schritte voneinander entfernt.

Sartre hat mal gesagt, der Krieg habe ihn zweigeteilt. Und auch für mich hatte die Welt ihre Dimension verloren. Ein Gefühl, das der Autor Milan Kundera in seinem Roman "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" im Kontext der russischen Invasion von 1968 in die Tschechoslowakei aufgreift: „Wenn sich zwei Gegensätze wie die Verdammung und das Privileg, der Nord und Südpol, so nahekommen, dass sie sich beinahe berühren, dann verliert die menschliche Existenz ihre Dimension und wird unerträglich leicht.“ Das Unerträgliche ist die Gewissheit, dass das Unmenschliche Tag für Tag und Trümmer um Trümmer geschieht. Eine Gesellschaft im Kriegszustand erfährt dies unmittelbar am eigenen Leib. Eine Gesellschaft im Frieden hat das Privileg, dies verdrängen zu können. Wie es auch Kundera einst in seinem Tagebuch schrieb: Der Krieg ist Realität. Damit müssen wir jetzt leben – Kann mir jemand sagen, wie?

Mein Wegschauen ist demnach ein Ausdruck dieses Privilegs der Verdrängung. Zugleich zeigt sich darin auch eine weitere subtilere Dimension des menschlichen Zusammenlebens: Die meisten Menschen in unserer Gesellschaft wachsen im Glauben auf, dass es immer eine dritte Instanz gibt. Einen Zufluchtsort, an den man sich in Not wenden kann. Die eigenen Eltern, Freund:innen, die Polizei und auch der Staat sind Repräsentanten dieser Hilfe in Not. Sie greifen in Konflikte ein, trösten uns, versuchen Gerechtigkeit wiederherzustellen und bewahren uns vor dem Äußersten. Wo diese Mächte versagen, nicht hinsehen oder eingreifen, entsteht zwar einerseits ein Raum der Freiheit, andererseits aber eben auch das Potential ungebremster Gewalt.

Das Gefühl der eigenen Sicherheit ist abhängig von dem Vertrauen darauf, dass es irgendwo auf der Welt einen Menschen gibt, der mir mit einem Funken Wärme im Herzen begegnet. Nichts rüttelt so tief an unseren menschlichen Ängsten, wie wenn dieses Vertrauen auf Menschlichkeit seine Gültigkeit verliert.

In dem Moment, als die Wirklichkeit stärker war als ich; ich wegschaute, mein Handy zückte und so tat, als existiere diese Situation nicht, habe ich dieses Versprechen der Menschlichkeit gebrochen und der Verwundbarkeit Platz geschaffen. Das Schockierende am Krieg ist, dass er nach unserem Denken und Fühlen greift. Unsere eigene Verletzlichkeit und Endlichkeit greifbar macht. Die entscheidende Frage ist, wie wir unsere Menschlichkeit in unerträglichen Situationen behaupten, ohne einen realitätsverleugnenden Rückzug anzutreten und sich in einen reißerischen Strudel der Angst ziehen zu lassen. Raketen, Leid und Elend sind Realitäten, die nicht von unserer eigenen Wahrnehmung abhängen.

Der Krieg ist Realität und er macht uns unmissverständlich deutlich: Menschlichkeit ist keine Selbstverständlichkeit.

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